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Full text of "Im Zeichen des Steinbrocks. Aphorismen"

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ISOLDE KURZ 

IM ZEICHEN 

DES 

STEINBOCKS 

APHORISMEN 



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/ 




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IM ZEICHEN DES 
STEINBOCKS & 



APHORISMEN 

VON 

ISOLDE KURZ 




MÜNCHEN UND LEIPZIG 
BEI GEORG MÜLLER 
1905. 



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INHALT 



* 

Im Zeichen des Steinbocks. Gedicht VII 

Allgemeines vom Menschendasein i 

Mann und Weib 37 

Aus der Welt des Herzens 77 

Vom Kinde 87 

Ethik und Rhythmus qq 

Geheimnisse 123 

Von der Sprache 143 

Aus VtSlkerscelen 153 

Vom Genius 173 

Poesie 170 

Kunst und Künstler 3x3 

Unter Menschen 21Q 

Aus der Zeit 343 




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Ein Flockensturm, als ging’ die Welt zu 

Ende, 

Die lange Nacht der Wintersonnenwende! 
Und morgen tritt durchs winterliche Haus 
Des Steinbocks die verjüngte Sonn’ heraus. 
Altheil’ges Juelfest, Urväterwonne, 

Des Lichts Triumphtag, die Geburt der 

Sonne, 

Dich ehr’ ich zwiefach, alter Weihebrauch: 
Der Sonne Wiegenfest ist meines auch. 

Ja, ich betrat die Welt beim Sonnensiege, 
Und unterm Steinbock stand auch meine 

Wiege, 

Zum Sinnbild nahm ich ihn, zum Wappentier, 
Sein hohes Zeichen, was bedeutet’s mir? 

In reinster Luft, am Rande der Moränen, 
Hoch über Fernen, die sich endlos dehnen, 
Der Gottheit näher ist des Steinbocks Welt, 
Den Adlern und den Sternen zugesellt, 
Vertraut dem Abgrund und der Wetterwolke, 



(5£K0£^2>: 



SS 

Ein Märchen fast dem talgebomen Volke, 
Der Berge König, tausendfach bedroht, 

Lebt er — und Niederungen sind sein Tod. 

So weist er aufwärts : wer in seinem Zeichen 
Geboren ist, der wag’ es, ihm zu gleichen, 
Ihn muß die weglos rauhe Höhe locken, 
Nicht vor dem Sturze bangend darf er 

stocken, 

Auf Gipfeln ist sein Reich und seine Ruh’, 
Er muß den ewigen Einsamkeiten zu. 

Denn nur in Öden, starren, unfruchtbaren, 
Kann er als Sonnenheld sich offenbaren, 
Auf heil’ger Höh’ die Juelfeuer zünden, 
Das Licht, das neu geboren ward, verkünden. 

Und huldreich ist die Sonne sein gedenk, 
Wie Königskinder, die mit Festgeschenk 
Die Mitgebornen ihres Tages ehren, 

Sie aber gibt, was Fürsten nicht bescheren: 
Das Haupt zu jeder Lichtgeburt bereit, 

Mit Träumen, wahrer als die Wirklichkeit, 
Den leichten Fuß, der rasch zum Gipfel trägt, 
Die Hand, die wie zum Spiel den Drachen 

schlägt. 



X 



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Mit solcher Gaben lustvoll strengem Zwange 
Schickt ihren Streiter sie zum Siegesgange. 
Und tausendfältig strahlt er Glanz zurück, 
Daß wer ihn sieht, erkennt, er sah das Glück. 
Und wo er wandelt, grünen Lenzesfluren, 
Und wo er schied, da läßt er Sonnenspuren, 
Ihm weicht die Finsternis, und nur im Grab 
Erlischt die Glut, die allen Wärme gab. 
Die Dichter, die Propheten und Erfinder, 
Die Lichtgebornen all, die Sonnenkinder, 
Des Steinbocks hohes Zeichen schwingen sie, 
Ein Juelfest der Geister bringen sie. 

Zum Dienst der Sonne kam auch ich. Doch 

weh’, 

Ein schwerer Nebel liegt, wohin ich seh’, 
Es dringt kein Strahl hinab zu jenen Gründen, 
Wo Irrwischflammen sich am Sumpf ent- 
zünden, 

Wo unterm Alp die Welt sich stöhnend quält, 
Und eins dem andern schweren Traum er- 
zählt. 

Wie Kranke schleichen sie mit müdem 

Blicke, 

Der schleppt ein Kreuz und jener eine 

Krücke, 

XI 



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SS 






Die Jugend träumt, sie geh’ im weißen Haare, 
Der Lenz sei krank, die Liebe auf der Bahre, 
Ein jeder zittert um sein Erdenheil, 

Und jeder kürzt dem andern seinen Teil, 
Die Muse kam und schloß das letzte Fenster, 
Und sprach mit irrem Ton: Hier sind Ge- 
spenster. 

In Winkel kroch sie, wo die Fratzen lauem, 
Und trieb das Nachtgezüchte von den Mauern, 
Des Alpdrucks Wahn, das ängstliche Ge- 

grübel 

Vergess’ner Frevel und vererbter Übel, 
Daß Hoffnung selbst vor ihrem Blick ver- 

steint, 

Und jedes Haus das Haus des Atreus scheint. 

O Menschheit hobst du jeden Schatz der 

Erden, 

Um ärmer nur und ärmer stets zu werden? 
Wardst du so groß, vertratst die Kinder- 
schuh’, 

Und deine Kinderseligkeit dazu? 

Was kannst du nicht? Dein rollender Planet 
Ist kaum noch Schranke, die dir widersteht. 
Den Raum bezwingst du, raubst der Zeit die 

Beute, 

XII 



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SH 






m 



Der Blitz, einst Bote Zeus’, dir dient er heute, 
Ringst mit dem Vogel um sein luftig Reich, 
Ein Schritt noch, und du bist den Göttern 

gleich. 

Und doch voll Gram an deines Tages Rüste 
Blickst du nach der verlass’nen Jugendküste, 
Wo du noch spieltest und die Phantasie 
Dir ihre farbigen Bilderbücher lieh ! 

O, über alle Lande möcht ich’s rufen: 
Kehrt heim zu unsrer Lichtaltäre Stufen! 
Ein Traum war alles, wollet nur genesen, 
Noch ist die Erde, was sie je gewesen. 
Noch kehrt der Lenz und seine tausend 

Triebe, 

Noch glänzt die Freude und noch lebt die 

Liebe. 

Kommt nur aus eurer Märkte Drang und 

Jagen, 

Heraus, wo stille, grüne Tempel ragen, 

Hört einmal wieder aus des Märchens 

Munde, 

Dem süßen, unberedten, ewige Kunde, 

Nur einmal seht von freien Bergeshöh’n 
Die junge Sonne siegreich aufersteh’n, 

xin 



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Werft hinter euch die Angst, vergeßt des 

Neids, 

Nennt euch der Sonne Kinder, und ihr seid ’s! 

Umsonst, sie hören nicht. Noch immer walten 
Des abgestorbnen Jahres Spukgestalten. 

Der Sonnenheld, noch ist er nicht erstanden, 
Der seine Brüder reißt aus Winters Banden. 
Noch tiefer muß das Dunkel uns umstricken, 
Der lange Frost die letzten Blüten knicken, 
Ein Abend bang wie Weltenabend kommen, 
Ein Brand, wie auf dem Idafeld entglommen, 
Bis eine Wintersonnwend rauh und kalt 
Gleich dieser bringt des Retters Lichtgestalt. 

O Heil dir, Göttersohn, von Kraft entzündet, 
Komm, wie die Sage dich vorausverkündet, 
Wie Wali, Wotans jüngster Ruhmessproß, 
Schwing du einnächtig schon dein Siegs- 
geschoß, 

Die Hand nicht wasche, sollst das Haar nicht 

schlichten, 

Eh du’s vollbracht, dein Retten, Rächen, 

Richten. 

Das Wort, das keiner weiß, du wirst es 

sagen, 



XIV 




Siegvaters Wort aus grauen Göttertagen, 
Dem toten Balder einst ins Ohr geraunt. 
Dann hebt die Erde sich vom Grab und 

staunt, 

Denn Wunder sind gescheh’n: wo Gletscher 

starrten, 

Ergrünt ein Feld, erblüht ein Rosengarten, 
Die Ströme brechen aus kristallnen Särgen, 
Und heilige Feuer glühn von allen Bergen, 
Aus Näh und Ferne ziehn geschmückte Gäste 
Zu einem Jubel- und Vermählungsfeste: 

Es wird Natur, die dunkeläugige Braut, 

Dem Geist, des Lichtes hohem Sohn, getraut. 
Dann wird das Leben wonnig sein, es werden 
Verjüngte Götter heimisch gehn auf Erden, 
Beglückt wer dann mit ihnen wohnt und wer 
Zum großen Feste kam der Wiederkehr! 

Doch weil das Heil noch fern der kranken 

Welt, 

Und weil mein Licht nur meinen Pfad 

erhellt, 

Will ich von ihren Festen fern und Fehden 
Mich mit der Zukunft einsam unterreden. 
Jn ätherleichte Luft, zum Alpenfim 

XV 



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Trägt mich der Geist, ich fühl’ um meine 

Stirn 

Das Wehen schon der ungebomen Tage, 
Mein Sein leg’ ich getrost auf ihre Wage, 
Und leb’ ein Stündchen, wo die Zukunft 

webt, 

Indes die längste Nacht vorüberschwebt, 
Bis mir der Sonne neugebome Pracht 
Aus Windeln frischen Schnees entgegen- 
lacht. 

Wohlauf! Der Steinbock tritt die Herr- 
schaft an, 

So steige, Seele, mit der Sonnenbahn! 




XVI 



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Die Welt ist ein Spiegel, worin ein jeder 
nur die eigene Seele sieht. 

99 

Redet mir nicht vom Zufall der Geburt! 
Ist denn die Geburt ein Zufall? Sie ist das 
Ergebnis der leidenschaftlichsten Wahl durch 
viele Jahrhunderte, und immer auch ein ent- 
sprechendes Ergebnis. 

99 

Ahnenkult und Ahnenstolz haben ihren 
tiefen Sinn. Es ist nicht gleichgültig, aus 
welchem Blut wir stammen, denn unsere 
Vorfahren gehen immer leise mit uns durchs 
Leben und färben, uns selber unbewußt, all 
unser Tun. 

In den großen Schicksalsstunden scharen 
sie sich als unsichtbare Leibwache um uns, 
wir fühlen ihre gemeinsamen Kräfte, die 
uns durchdringen, ohne zu wissen, woher 
diese Kräfte uns gekommen sind. 

99 

3 x * 



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Jede menschliche Natur ist ein Wider- 
spruch, aus zwei verschiedenen, häufig 
gegensätzlichen Naturen zusammengefügt. 
Zieht man noch die Ahnenreihe hinein, die 
sich aufwärts ins Unendliche verliert, so er- 
kennt man, daß schon die ganze Menschheit 
zur Herstellung des Einzelnen verwendet 
worden ist, wie sich sein Ich abwärts ins 
Unendliche spalten und sich am Ende wieder 
über die ganze Menschheit verteilen muß, 
denn Blutsverwandte sind wir alle. Wo sollte 
da Einheit des Charakters noch herkommen ? 
Die gab es im Altertum, wo di© Lebensbedin- 
gungen ähnlicher und wo die Völker weniger 
gemischt waren oder das Gemischte gleich- 
mäßiger assimiliert. 



Die Abhängigkeit von der Umgebung ist 
nur unbedingt wahr für den gemeinen Men- 
schen. Unser „Milieu“ sind nicht die Spieß- 
bürger, die in einer Stadt mit uns leben, 
sondern der geistige Boden, aus dem wir 
unsere Nahrung ziehen. Die großen Men- 

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sehen aller Zeiten, mit denen wir von klein 
auf verkehren, die sind’s. 

Aufgabe der verfeinerten Selbstsucht : so- 
viel Schmerz wie möglich aus der Welt 
schaffen, alles Lebende in seinen Egoismus 
einschließen. Wer Glück zerstört, wer die 
Last des Jammers auf der Erde vermehrt, 
der darf nicht hoffen, daß der Luftdruck 
über seinem eigenen Haupt geringer werde. 

Wahrhaft großes Empfinden zeigt sich 
nicht darin, daß man sich ausschließlich mit 
großen Dingen beschäftigt, sondern daß man 
auch das Kleinste dem Großen anzugliedem 
weiß. 

W 

Das Gros der Menschen ist nur in der 
Jugend genießbar, nach fünfundzwanzig hört 
bei den meisten die Entwicklung auf, und 
sie beginnen zu schrumpfen. Deshalb sehen 
sie auf ihre Jugend zurück, als auf eine Zeit 
höherer Fähigkeiten, ein geschwundenes Pa- 

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radies. Bei dem begabten Menschen steht 
der Fluß des Werdens niemals stille, und 
er empfindet sein Ich nicht anders, als in 
der Jugend, daher ihm der Flug der Zeit 
nicht zum Bewußtsein kommt. 

Die meisten Menschen sind wie schlecht 
konstruierte Lampen, jene billige Fabrikware, 
die gleich trübe brennen, sobald das öl ein 
wenig gesunken ist. Dagegen gibt es einige 
wenige vom Schöpfer so vortrefflich aus- 
gearbeitete Mechanismen, daß sie durch 
nichts verdorben werden können und das 
gleiche Licht verbreiten, bis der letzte Trop- 
fen öl verzehrt, ja bis die letzte Feuchtigkeit 
aus dem Dochte gesogen ist. Solche Men- 
schen sind Gottes Handarbeit. 

n 

Das Individuum will sich einmal mani- 
festieren, ehe es in den Schoß der Allgemein- 
heit zurückkehrt. Bleibt ihm gar kein Mittel, 
sich auszuzeichnen, so schreibt der Alltags- 
mensch wenigstens seinen Namen mit einer 

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geschmacklosen Bemerkung ins Fremden- 
buch, damit die Nachfolgenden wissen, daß 
er auch dagewesen. 

Geistlose Menschen können nicht freudig 
sein, die Materie lastet mit zu schwerem 
Druck auf ihnen. 

Auf törichte Wünsche wartet zuweilen 
eine grausame Strafe: ihre Erfüllung. 

Der gefährlichste Sturz ist der von einem 
Luftschloß herunter. Stark ist, wer sich da- 
von wieder erholen kann. Die meisten 
kriechen mit zerschmetterten Gliedern noch 
eine Strecke weiter, bis sie elend liegen 
bleiben. 

Das Leben ist ein fortgesetzter, unfrei- 
williger Tauschhandel. Wir glauben unser 
liebstes Gut auf immer festzuhalten, und 
schon landet, von uns unbeachtet, das Schiff, 

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das es uns entführen wird. Und während 
wir ihm hoffnungslos nachstarren, taucht am 
fernen Horizont ein Segel auf, das den Er- 
satz bringt. 

Es kommt ein Augenblick, wo auch der 
Glücklichste vollkommen allein ist, denn das 
letzte Wort auf Erden hat jeder mit dem 
eigenen Körper zu reden. 

Nichts charakterisiert den Menschen 
mehr, als das, wofür er niemals Zeit findet. 

r* 

Jeder edle Mensch muß vorher alt 
werden, ehe er jung wird. 

Überlegung kann Schurken machen, un- 
bedachtes Handeln macht sie nie. Darum 
fliegen den impulsiven Naturen alle Herzen 
entgegen. 

** 

Den Ehrgeizigen soll man nicht schelten. 
Der Erfolg kann den Menschen innerlich 

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weiter machen. Verkanntes Verdienst fällt 
oft auf eine plumpe Schmeichelei herein, 
die das verwöhnte Glückskind verachtet. 

Ein häßliches Mädchen wird durch ein 
Kompliment verführt, das an einer gefeierten 
Schönheit unbeachtet niedergleitet. 

Es ist nicht zu verwundern, daß be- 
schränkte Menschen so eigensinnig sind. 
Wem das Denken große Mühe macht, der 
weiß wohl, warum er das einmal Aufgenom- 
mene so lange wie möglich festhält, statt 
sich gleich einer neuen Mühe zu unterziehen. 

Eitelkeit macht geziert und unruhig, 
Selbstgefühl gibt N atürlichkeit und Sicherheit. 

Dem oberflächlichen Weltkind ist ein 
bißchen Eitelkeit nicht schädlich, es ist 
eben auch nur oberflächlich eitel; eitel auf 

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kleine Talente oder äußere Vorzüge. Aber 
wehe, wenn die Eitelkeit sich der ernsthaften, 
pedantischen Naturen bemächtigt. Die neh- 
men es mit der Eitelkeit selber ernsthaft und 
beziehen sie auf die ernsthaften Dinge, wie 
Charakter, Kenntnisse usw. Deshalb steht 
keine Eitelkeit in so üblem Geruch, wie Ge- 
lehrteneitelkeit. 

Die Zeit wird nicht nach der Länge, 
sondern nach der Tiefe gemessen. 

Zeiten, in denen wir nichts erleben, sind 
endlos, wie ein langer, weißer, schatten- 
loser Weg, worauf man keiner lebenden Seele 
begegnet. 

r* 

Wer jeden Augenblick mit tiefem Ge- 
halte erfüllen kann, hat seine Lebensspanne 
zur Unendlichkeit erweitert. 

4 * 

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Weil die Zeit keine absolute, nur eine 
relative Länge hat, deshalb ist jedes starke 
Empfinden ewig, auch wenn es nur einen Tag 
gedauert hätte. 

\ 

Es ist kein Mensch zu beneiden, er stehe 
so hoch und fest er wolle. Der unaufhaltsame 
Planet schwingt sich um die Sonne und ver- 
nichtet durch seinen bloßen Umlauf alles 
Erdenglück. 

WIDERSPRUCH DES LEBENS. Man 
hüte sich, die menschlichen Geschicke nach 
Regeln und Analogien zu berechnen. Jeder 
Fall ist der erste und der letzte seiner Art, 
denn nichts wiederholt sich jemals ganz auf 
Erden. Gerade die Erfüllungen, die die All- 
tagsweisheit am sichersten vorhersagt, treffen 
niemals ein. Im Augenblick der Entscheidung 
ist das ganze Spiel verschoben: der Mutige 
wird feig, der Egoist begeht eine großmütige 
Handlung, und von allem Erwarteten ge- 
schieht das völlige Gegenteil. 

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M«gg5i 









Das Leben führt uns ewig ad absurdum, 
und dieser ewige Widerspruch ist es gerade, 
was das Leben so interessant macht. 

Die einzigen Menschen, die ein völlig 
ruhiges Gewissen haben, sind die großen 
Verbrecher. 

MORAL UND PSYCHOLOGIE. Wie 
viel freudiger lebte sich’s unter den Men- 
schen, wenn unsere sittliche Überlegenheit 
über den Nächsten nicht wäre, das Richten 
nach idealen Forderungen, die in ihrer Ge- 
samtheit nirgends auf Erden erfüllt werden. 

Dieses moralische Besserwissen, dieses 
„er sollte“, „er müßte“ des einen vom andern 
kann einen Menschen mit psychologischen 
Tastorganen in die Verzweiflung und von 
da in die Einsamkeit treiben. Wo ist denn 
der Sterbliche, der immer handelt, wie er 
sollte und müßte? Der heute diese Worte 
braucht, wird morgen selber durch sie ge- 
richtet. Höchstens für Kinder oder für Ma- 



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trosen, die auf einem Schiff beisammen leben, 
ist die Pflicht eine so einfache, gradlinige 
Sache. Unsere Verhältnisse zusammen mit 
unseren Anlagen bilden ein so unendlich 
kompliziertes Gewebe, daß in hundert Fällen 
neunzigmal dem „ich sollte“ ein „ich kann 
nicht“ gegenübersteht. 

Wenn sich nun wenigstens die morali- 
sche Superklugheit auf den einzelnen Fall 
beschränkte! Aber wie wenige können dem 
Anreiz widerstehen, von da sofort einen 
Rückschluß auf den ganzen Charakter zu 
ziehen, und dann ist der Spruch der summari- 
schen Justiz fertig. Wie groß, wie selbst- 
gerecht, wie unantastbar ist der Herr Jeder- 
mann, so lang er das Gesetz im Munde führt. 
Wie hoch blickt er von den Schnee- 
gipfeln der idealen Forderungen auf den 
armen Teufel, der sie nicht erfüllen konnte, 
nieder. Aber bitte, Verehrtester, steigen Sie 
einmal von Ihrer abstrakten Höhe in die 
Ebene des Lebens herunter und messen Sie 
hier Ihren Wuchs mit dem seinigen. Das 
darf ich natürlich nicht laut sagen, deshalb 
decke ich mich in solchen Fällen durch eine 

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klassische Autorität und erwidere mit Ham- 
let : „Gib jedem, was er verdient, so ist keiner 
vor Prügeln sicher.“ 

Die Menschheit hat wohlweislich ein 
höheres ethisches Ideal aufgestellt, als sie 
verwirklichen kann. Nach starrem Rechts- 
spruch ist der Mensch in jedem Augenblick 
an sich schon verdammlich, weil er 
„In der Menschheit traurigen Blöße 
Steht vor des Gesetzes Größe“, 
jenes ungeschriebenen Gesetzes, das jeder in 
der Brust trägt, dessen Erfüllung er aber 
zumeist — von den andern erwartet. 

Es ist der Grundwiderspruch der mensch- 
lichen Natur, die wahre „Erbsünde“, dieser 
klaffende Riß zwischen dem, was der Mensch 
vom Menschen fordert, und dem, was er 
selber leisten kann. So gibt es ja nur in der 
Geometrie, aber nirgends in der Natur eine 
völlig gerade Linie. Und nur in der Arith- 
metik gehen die Rechnungen richtig auf, im 
Leben bleibt immer ein unlösbarer Rest 
zurück. Der Dichter kennt diesen Rest — er 
ist sein eigenstes Gebiet — , der Psychologe, 




der Erzieher kennt ihn, aber die große Menge 
derer, die sich denkende Menschen nennen, 
weiß nichts von ihm und schreit immer aufs 
neue, wo er ihr entgegentritt. 

Nun ist zum Unglück auch unser gei- 
stiges Auge so eingerichtet, daß wir die Kon- 
turen der Dinge viel schärfer wahrnehmen, 
als sie in Wirklichkeit sind. Wir sehen einen 
dicken, schwarzen Strich, wo in Wahrheit 
Licht und Schatten viel zarter ineinander- 
fließen. 

Wir sind alle mehr oder minder un- 
duldsam gegen Laster, die nicht in unserem 
eigenen Temperament liegen. Und das ist 
ganz natürlich. Wem der Wein nicht 
schmeckt, wie soll der den Trunkenen be- 
greifen? Dagegen zeugt es von niedriger 
Gesinnung, wenn einer besonderes Ärgernis 
an solchen Sünden nimmt, die ihn gleichfalls 
reizen würden, zu denen ihm aber die Ge- 
legenheit fehlt. 

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I 



Bi 






Die tugendhafte Frau, die sich mit ihrer 
Tugend langweilt, aber nicht den Mut zum 
Leichtsinn findet, die ist es, die den ersten 
Stein auf die gefallene Schwester wirft. 
Aber hier verlassen wir schon das Gebiet 
der falschen Moral und kommen in das des 
gemeinen Neides. 

Wie manches Mal habe ich gewünscht, 
die juwelenstrahlende Weltdame möchte sich 
mit meinen Augen sehen, wenn sie, durch ein 
einziges Wort verwandelt, plötzlich mit dem 
Wasserkübel auf dem Kopf als Lischen am 
Brunnen vor mir stand. 

Un errore, sagt der leb ens weise Italiener, 
wo der harte, abstrakte Germane gleich von 
Schuld, Übertretung, Bruch des Gesetzes 
spricht. Richtig, denn die meisten Vergehun- 
gen sind Irrtümer — die Ate. 

Ab und zu begegnet man Menschen, die 
ihre Grundsätze nicht nur auf die andern, 
sondern auch auf sich selber anwenden und 

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deren Leben darum in einer schnurgeraden 
Linie verläuft. Diese genießen denn auch 
einen so großen moralischen Kredit, daß sie 
innerhalb ihres Kreises die Richter und Rater 
in allen Gewissensfragen spielen. Aber ge- 
rade sie sind dazu am wenigsten berufen, 
denn sieht man sie näher an, so sind es 
rechtschaffene, spießbürgerliche Leute, in 
deren Adern das Blut so langsam fließt und 
deren geistiger wie auch gesellschaftlicher 
Horizont so eng ist, daß sie das Leben ganz 
zum Rechenexempel gemacht und mit Prin- 
zipien wie mit Wickelbändem umschnürt 
haben. Das imponiert dem Unerfahrenen, 
dem Autoritätsbedürftigen, der die Gedanken 
anderer zum Denken braucht. Aber wie schnell 
versagen diese Orakel vor den Konflikten 
einer bedrängten Seele. Wie sollte auch der 
Philister, der nichts erfahren hat und nie 
die Grenzen des Menschlichen abgetastet, 
mit seiner Buchweisheit und Buchmoral in 
die Abgründe des Lebens leuchten? Die 
Bravheit und Unbescholtenheit tun es nicht, 
und alles Erlernte steht hilflos dem Leben 
gegenüber. Wer den Gewissen ein Führer 

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sein will, der muß selber mit Engeln und 
Dämonen gehaust haben und Verantwortun- 
gen getragen, aus denen die Erkenntnis fließt. 
So einem Renaissancemönch, der sich aus 
wilden Abenteuern in die Stille der Zelle 
zurückgezogen hatte, um nachzudenken, 
einem solchen mochte sichs gut beichten. 
Wessen Tugend aber von der negativen Art 
ist, der hat höchstens Licht genug, um seinen 
eigenen Weg zu finden. 

Wer aus den moralischen Forderungen 
die letzten strengsten Konsequenzen ziehen 
will, dem bleibt nichts übrig, als in eine 
menschenleere Wüste zu fliehen. Und wenn 
er sich besinnt, so wird er vielleicht auch 
dort erkennen müssen, daß immer noch einer 
zu viel da ist. 

In dieser schrecklichen Enge hat die Na- 
tur uns zwei Sicherheitsventile gegeben: die 
Nachsicht, die nichts ist, als die angewandte 
Gerechtigkeit im Gegensatz zur abstrakten, 
und den Humor. 

** 

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Der Durchschnittsmensch sieht von 
seinem Gegenüber immer nur die eine, ihm 
jeweils zugekehrte Seite. Er kann sich in den 
Oszillationen des Tages kein klares und un- 
verrücktes Bild der anderen erhalten. So 
entsteht das beständige Auf und Ab in der 
Beurteilung der Charaktere, das wechselnde 
Überschätzen und Verwerfen, das den un- 
befangenen Zuschauer mitunter fast see- 
krank macht. 

Die seherisch angelegten Naturen tragen 
das Ganze eines Menschen als festes Bild 
mit Licht und Schatten in sich herum, das 
durch die wechselnden Erfahrungen nur leise 
modifiziert, nicht häuptlings umgestürzt wer- 
den kann. Widersprüche erstaunen sie nicht, 
denn sie wissen, daß diese zum Ganzen einer 
Individualität gehören. Sie kennen keinen 
sittlichen Eifer, und die richterliche Weisheit 
der andern ist ihnen ein Greuel; mehr noch 
als ihr Gemüt, empört sie ihren Intellekt. 
Das bringt sie in beständigen Gegensatz zu 
ihrer Umgebung, der solche Objektivität nicht 
selten als Kälte oder moralische Indifferenz 
erscheint. Gewiß ist ein Hauptgrund, wes- 

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halb so oft die Dichter und Seher sich in 
späteren Jahren ganz vom Verkehr der Men- 
schen zurückziehen und ihr Leben in selbst- 
gewählter Einsamkeit beschließen: die blin- 
den Urteile der Schnellfertigen nicht mehr 
hören zu müssen. 



ARTIG AUCH GEGEN SICH SELBST. 
Wenn man seine Mängel nicht hätscheln 
soll, so hat man doch auch nicht nötig, sie 
mit Keulen auszutreiben. Man behandle sein 
Ich wie einen erprobten Freund, an dem man 
gelegentlich gern einen Fehler abstellen 
möchte. Man suche sich selbst durch freund- 
lichen Zuspruch, allenfalls durch ein bißchen 
Schmeichelei, zum Besseren zu bereden. Man 
sage sich zum Beispiel in einem Moment 
der Verzagtheit: 

„Komm! Ich kenne dich ja sonst als 
brav, hast schon manches Mal gut bestanden, 
wirst mir doch diesmal keine Schande 
machen.“ 

Das Gelobtwerden für eine Eigenschaft, 
die man nicht hat, wird häufig zum Sporn, 

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sich diese Eigenschaft zu erwerben, und der 
wahrhaft Kluge muß auch verstehen, sich 
selber zu überlisten. 

Das abstrakte Moralpredigen dagegen ist 
beim eigenen Ich so wirkungslos, wie beim 
fremden. 

DER DANK EIN ÜBEL. Dank soll man 
weder geben noch fordern. Er würdigt beide 
Teile herab. Durch einen Dienst, den man 
mir erweist, darf ich in nichts gehindert sein, 
sonst verwandelt sich die Wohltat in eine 
Übeltat, und nur aus dieser Gesinnung her- 
aus darf ich anderen etwas Gutes erweisen. 
Wenn ihr mich nicht liebt für das, was ich 
bin, — für das, was ich tue, sollt ihr mich 
nicht lieben müssen, denn so halte ich’s auch 
mit euch. 

Wer sich zur Dankbarkeit verpflichten 
läßt, der trägt eine Kette, gegen die er sich 
früher oder später empören muß, denn alle 
Liebe will Freiheit und Freudigkeit. Eine 
Wohltat, sei sie noch so groß, ist durch 

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innere Abhängigkeit zu teuer bezahlt. Wer 
sie in dieser Absicht erweist, macht ein Ge- 
schäft, bei dem er den Freund übervorteilt, 
und bleibt dabei doch der Betrogene. Um 
gerecht und liebevoll zu bleiben, habe man 
den Mut, undankbar zu sein. 

r* 

Das Danken ist eigens erfunden, um die 
Last der Dankbarkeit aufzuheben. Es ist eine 
Handlung, die sich mit einer anderen Hand- 
lung scheinbar ins Gleichgewicht setzt, was 
ein bloßes Gefühl nicht könnte. Sie macht 
denjenigen, der sie vollzogen hat, wieder 
zu einem freien Menschen. 

MACHT DER ÜBERZEUGUNG. Nichts 
auf Erden ist so unwiderstehlich wie Über- 
zeugung, die aus tiefster Seele kommt. Sie 
ist der Strom, der alle Dämme bricht und 
alle Wasser mit sich reißt. Sie unterwirft 
sich sogar die Welt der Sinne. Eine häßliche 
Frau kann durch den felsenfesten Glauben, 
schön zu sein, ihre Umgebung so beein- 

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flussen, daß diese nicht mehr wagt, sie häß- 
lich zu sehen. Ja, dieser Glaube braucht 
nicht einmal ausgesprochen zu werden, er 
teilt sich von selbst der Umgebung mit und 
schlägt den Widerspruch der Augen nieder. 

DER GROSSE UND SEINE ZEIT. 
Bringt die große Zeit das große Individuum 
hervor, oder umgekehrt das große Indivi- 
duum die große Zeit? Müßige Frage. Immer 
wenn die Spannung sehr groß wird, so gibt’s 
irgendwo eine große Entladung, die der große 
Mensch heißt. Dieser wird das gestaltende 
Prinzip, durch das die ringenden Gewalten 
seiner Zeit sich klären. 

DER KLEINE UND SEINE ZEIT. 
Wenn einer seufzt: „Ach ja, zu meiner Zeit“ 
— so hat er mit drei Worten sein Bild ge- 
zeichnet. Ich sehe ihn vor mir, wie er 
ein Weilchen flott mit seinesgleichen den 
breiten Strom hinuntertreibt, vielleicht wäh- 
rend des Dezenniums, in das seine zwan- 

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ziger Jahre fallen, und wie schon das nächste 
Dezennium ihn über Bord wirft. Wer seine 
eigene Welt hat, dessen Zeit ist nie und 
immer. 

»f 

UNSER EIGENTUM. Das ganze Leben 
wird uns von außen aufgedrungen, nur eines 
gibt es, was wir selbst gestalten können : 
unser Ich. Dies ist der Garten, den ein jeder 
zum Bebauen erhalten hat. Wenn er ver- 
wildert und verödet, so ist es unsere eigene 
Schuld. Wir können keinen, aber auch gar 
keinen Genuß im Leben finden, als von den 
Früchten, die in diesem Garten gewachsen 
sind, 

** 

DIE WERDENDEN. Welch größere 
Wohltat kann man einem suchenden Men- 
schen erweisen, als daß man ihm zu seinem 
eigenen Ich den Weg finden hilft? 

Niemand soll junge Leute von Dumm- 
heiten zurückhalten. Dummheiten sind die 

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beste Grundlage für künftige Weisheit. Weis- 
heit der Jugend ist ein unerfreuliches Ge- 
wächse. Freilich gibt es auch ab und zu 
begabte Individuen, die nicht von vom an- 
zufangen brauchen, die schon mit allen Er- 
fahrungen wie mit Niederschlägen einer 
früheren Existenz zur Welt kommen. Aber 
sie bringen auch eine Müdigkeit mit und 
passen nicht ins Leben, weil sie zum Han- 
deln unfähig sind. 



Der starke Mensch verzeiht sich jede 
Torheit, wenn sie ihn innerlich gefördert hat, 
weil er ihren Folgen tapfer standhielt. Was 
man sich nie verzeiht, sind die Unterlassungs- 
sünden, die kleinliche Vorsicht, wenn man 
etwas Großes hätte erleben können, dem man 
feige ausgewichen ist. Denn der starke 
Mensch hat einen Anspruch auf Kampf und 
Leiden. Es kommt eine Stunde, wo ihm des 
Glücks und Wohlseins zu viel wird, dann 
ruft er, um zu wachsen, selbst das Unglück 
herbei. 

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SJi 









Der starke Mensch verlangt im Grunde 
gar nicht, glücklich zu sein, er verlangt viel- 
mehr die Grenzen seiner Natur abzutasten. 
All die persönlichen Eigenschaften kennen 
zu lernen, für die es im täglichen Leben 
keinen Raum gibt. Wie wenigen von uns 
ist es überhaupt noch vergönnt, sich selber 
zu erleben. Und das, woran wir am meisten 
leiden, ist nicht das Unglück, das uns trifft, 
es sind die Gespenster aller jener Erlebnisse, 
für die unsere Natur ausgerüstet ist, die uns 
aber nie und nirgends begegnen wollen. 

Zuweilen klafft ein breiter Riß zwischen 
dem Talent und dem Naturell eines Men- 
schen. Das Talent treibt ihn, Dinge zu tun 
und zu sagen, die ihn in einen Zwiespalt 
stürzen, dem die Kraft seines Naturells nicht 
gewachsen ist. Dann verstummt sein Genius 
und überläßt ihn der Verantwortlichkeit, die 
er ihm aufgeladen hat. Delikate, sensible Na- 
turen stürzen leicht in den Abgrund hin- 
unter, an dessen Rand sie durch Zwang 
des Talents getrieben werden. 

»» 

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SELBSTERZIEHUNG. Wenn ich einen 
Briefwechsel oder ein Tagebuch aus dem 
Anfang des neunzehnten Jahrhunderts lese 
oder wenn ich mir ganz alte Leute ins Ge- 
dächtnis zurückrufe, deren Jugend noch 
durch jene Zeit beeinflußt war, so überrascht 
mich nichts so sehr, als wie diese Men- 
schen an sich selber gemodelt und ziseliert 
haben. Sie sahen ihr Ich als ein Kunstwerk 
an, das die Natur nur roh abbozzieren konnte, 
und dessen Ausführung ihnen selbst über- 
lassen blieb. Auch die höchsten, edelsten 
Geister fühlten — und gerade die am meisten 
— , daß es noch vieler Arbeit bedurfte, um 
den Namen „Mensch“ zu verdienen. Wer* 
von uns Heutigen hat noch den Trieb, an 
seiner inneren Veredlung zu arbeiten? Glück 
genug, wenn wir von Natur aus nicht ganz 
verwahrlost sind, von uns selber aus sind 
wir’s gewiß. Und ganz naiv wie Wilde 
stehen wir neben diesen Charakterkünstlern 
und Selbsterschaffem. Der Mensch im Ur- 
zustand bildet nur die Fähigkeiten aus, die 
ihm im Lebenskämpfe vorwärts helfen, 
andere kennt er nicht oder er verlacht sie. 

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Auf diesen Standpunkt sind wir zurückver- 
wildert. Unsere ganze Selbsterziehung geht 
darauf aus, uns womöglich eine dicke Haut 
und starke Ellenbogen anzuschaffen. Von 
jener inneren Reinlichkeit, die unsere Alten 
trieb, ihre Seelen immer so gründlich zu 
waschen, wie wir den Leib, davon ist keine 
Spur mehr vorhanden. Wir lassen unsere 
angeborenen Gebrechen ruhig wachsen und 
gedeihen, es wäre denn, daß sie uns am 
weltlichen Fortkommen verhinderten. Dies 
ist der einzige Fall, wo ihnen entgegenge- 
arbeitet wird. 

Es gibt zwar noch Naturen mit künst- 
lerischem Bedürfnis, die ihren Geist wie 
eine herrliche Parkanlage behandeln, wo man 
Haine pflanzt und Blumenbeete anlegt, 
Hecken durchbricht, um Wege zu ziehen 
und Aussichtstürme zu errichten. Diese Gat- 
tung lebt noch, obgleich sie selten geworden 
sind, die letzten Exemplare der Spezies Kul- 
turmensch. Aber Gemüt und Charakter 
gleicherweise urbar zu machen, den ganzen 
Menschen zur künstlerischen Vollendung zu 
bringen, das fällt ihnen gar nicht ein. Diese 




großen unendlichen Gebiete ihres Ichs geben 
sie jedem Zufall preis, hier herrscht der 
roheste Naturalismus. Sie sind zu blind oder 
zu schlaff oder zu eingebildet, um da Hand 
anzulegen, und ertragen es geduldig, daß 
Verhältnisse und Erziehung sie verpfuschen, 
sie geben sich willenlos zum Objekt äußerer 
Einwirkungen her. Ihr ästhetisches Gefühl 
ist nach dieser Seite völlig stumpf. Die gei- 
stige Kultur hat mit Seelenadel nichts mehr 
zu tun, und nicht nur die materiellen, sondern 
auch die höchsten geistigen Güter befinden 
sich großenteils in den Händen von reich 
gewordenem Pöbel, denn auch geistige 
Güter sind mit Geld zu erwerben. 
Pöbel ist jeder, der nur mit persönlichen 
Zwecken umgeht : erwerben, scheinen, gelten, 
verdrängen, festhalten. Pöbel ist, wer vor 
dem Unglück stehen kann, ohne sich für 
einen Augenblick wenigstens seines Wohl- 
befindens zu schämen. Wer nicht in seinem 
Herzen einen umhegten Garten hat, dessen 
Blumen er schont und gießt, und den Freunde 
ohne Gefahr betreten können, der ist Pöbel. 






Seit unsere Kultur ihr altes Fundament, 
den Humanismus — wie bezeichnend war 
schon das Wort für das ganze Streben! — 
hat abgraben und sich ein neues, die Natur- 
wissenschaften, unterschieben müssen, gibt 
es keine vollen Menschen mehr. Es gibt 
sie noch nicht wieder, sollte ich besser 
sagen, denn eine Höhe, die einmal erreicht 
war, kann nicht auf die Dauer verloren gehen. 

GEISTIGE STRÖMUNGEN. Ebenso 
wie im Kosmischen, braucht es auch in der 
Ideenwelt die kalten und warmen Strö- 
mungen, die einander begegnen, durchdrin- 
gen, ablenken und modifizieren müssen ; den 
Golfstrom der Begeisterung, den auf seinem 
Lauf die Palme begleitet, und die eisigen 
Polarwasser der Skepsis, der Kritik und Ne- 
gation, um die allgemeine Bewegung zu er- 
halten. 

Im Seelenleben kann sich, wie im Reich 
der Natur, Wärme jederzeit in Bewegung 

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SS 






ES 



umsetzen. Wo ich stark empfinde, kann ich 
meine Empfindung auf andere übertragen, 
bin ich aber kalt, so bleibt alles um mich 
starr und regungslos. 



DEFINITIONEN. Alles Seiende ist ein 
großer Zusammenhang. Wo man durch- 
schneidet, um ein einzelnes Glied heraus- 
zuheben, da wird der Lebensnerv durch- 
schnitten, und man hat ein Stück toter Ma- 
terie in der Hand. Es ist etwas Häßliches 
und Gehässiges um die Sucht der Menschen 
zu definieren. Wo man definiert, da irrt 
man schon, denn definieren heißt Grenzen 
ziehen, und die abstrakten Dinge haben keine 
Grenzen. Aber manchem ist erst wohl, wenn 
er zwischen lauter festen Sätzen auf- und 
abgehen kann, wie ein Kerkermeister zwi- 
schen Gefangenenzellen, in denen er die 
armen Häftlinge lebendig eingemauert ver- 
schmachten läßt. 

Worte sind meist die Häscher und Scher- 
gen des Gedankens. Man sollte den Mund 
nur öffnen, um eingeschnürten Wahrheiten 

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SH 









die Freiheit zu geben, nicht um neue Ge- 
fangene zu machen. 

NEUE GEDANKEN. Wirklich, es gab 
einmal neue Gedanken! In der Zeit, wo die 
Menschen viel langsamer und bedächtiger 
dachten, konnte es kommen, daß einer einen 
Gedanken fand, der ganz neu und blank war, 
der den Hörer überraschte und sich ihm als 
etwas Wahres, Dauerndes in die Seele prägte. 
Das mußte ich denken, als ich die „Trost- 
schrift“ des Plutarch an den Appolodoros 
las. Als der Mann sich hinsetzte und so 
viele Zeit verlor, um einem Vater über den 
Tod seines Sohnes alle jene Tröstungen zu 
schreiben, die uns so schrecklich banal klin- 
gen und gar nichts mehr sagen, da waren 
sie noch etwas, waren Gedanken, die einer 
zum erstenmal dachte, die der andere zum 
erstenmal hörte und sie wie köstliche Spen- 
den aus unbetretenen Kammern empfing. Sie 
zeigten ihm das Ereignis in einem ganz 
neuen, überraschenden Lichte, und haben ihn 
vielleicht — ja gewiß — in Wirklichkeit ge- 

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tröstet. Wo nähme man heute noch einen 
Gedanken her, der durch Neuheit so be- 
zaubernd wirkte? Sie fliegen alle wie Spreu 
herum, sind ausgedroschen und haften 
nirgends. 

TODESSTRAFE. Die Todesstrafe ist 
eine empörende Ungerechtigkeit, weil jeder 
Unschuldige, der von einer Hinrichtung 
Kenntnis hat, mit hingerichtet wird. Doppelt 
empörend ist es, daß man mit Vorliebe den 
Sonnenaufgang zum Zeugen nimmt. Ist das 
noch eine Erinnerung an die alten, gräß- 
lichen Opferbräuche, die den Sonnengott 
durch Menschenblut zu ehren glaubten? 
Welch ein widriger und abscheulicher Ge- 
danke, daß Morgenstunde Blut im Munde 
haben soll! Daß der Verurteilte aus Schlaf 
und Traum, die ihn wieder unschuldig ge- 
macht haben, herausgerissen und wie ein 
Kind, das kaum noch von sich selber weiß, 
dem Henker übergeben werden soll! Denn 
der erwachende Mensch ist gleich dem Kinde. 

Macht eure alten, scheußlichen Bräuche 

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SS 









% 

in der Mitternacht ab, wenn ihr nicht davon 
lassen könnt, dahin gehören sie. Der junge 
Tag will noch rein sein von Blut, wie jeder 
Mensch in der Frühe selber wieder rein wird 
und mit unschuldiger Müch- und Pflanzen- 
nahrung sein erneutes Dasein beginnt. 



MENSCH UND GOTT. Die Gottheit be- 
darf ebenso des Menschen, wie der Mensch 
der Gottheit bedarf. 

r* 

Ein völlig einfältiger Glaube steht am 
besten dem Manne der Tat zu Gesicht. Von 
dem Helden erwartet man nicht, daß er zu- 
gleich Denker sei; er bedarf eines ganz per- 
sönlichen, unmittelbaren Zusammenhangs 
mit der Gottheit. So kann er das Ungeheure 
unternehmen, kann sich als einziger Weißer 
mit einem kleinen geworbenen Negerhäuflein 
in einen unerforschten Erdteil wagen, Fein- 
den entgegen, deren schauerliche Naivität 
nur ein schätzbares Stück Kochfleisch in 
ihm sieht. Wenn die Tore der Zivilisation 



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auf Jahre hinter ihm zugeschlagen sind, wenn 
der Tod auf Schritt und Tritt mit Sprüngen 
eines tollen Affen hinter ihm hersetzt, dann 
fühlt er sich durch einen direkten Faden von 
oben gehalten und erlebt Stunden, wie sie 
kein anderer erleben kann. Er wird für sich 
selber eins mit der Weltordnung, deren Be- 
fehle er vollzieht. Um so liebenswürdiger er- 
scheint er, wenn er bei der Heimkehr wieder 
unter die Sterblichen zurücktritt, indem er 
die Trophäen, auf die er sich selbst kein 
Recht zuschreibt, im Heiligtum seines Gottes 
niederlegt. 




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MANN 

UND 

WEIB 



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Gottes Auge sieht von Anbeginn zwei 
Menschen einander gegenüberstehen: Mann 
und Weib. Wie die Zwei sich lieben und 
hassen, so haßt und liebt sich nichts mehr 
auf Erden. Für ihn sind es immer die näm- 
lichen, denn was zwischen ihnen geschieht 
in Liebe und Haß ist durch die Jahrtausende 
immer dasselbe. Er kann da so genau nicht 
Zusehen. 

Mann und Weib sind zwei Nationen, 
die niemals fraternisieren, am wenigsten, 
wenn sie sich zu der großen Allianz die Hand 
reichen. 

** 

Liebe macht die Frauen hellsehend und 
die Männer blind. Denn die Frau will ein 
Ideal verwirklichen, der Mann will nur seinen 
Willen durchsetzen und unter allen Um- 
ständen Recht behalten. 

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Die Männer leiden an einer Art geistiger 
„Übersichtigkeit“. Sie sehen ferne Horizonte, 
aber nicht die kleine Welt, die vor ihrer 
Nase liegt. Darum werden sie von den 
Frauen, denen die kleine Welt gehört, an 
eben dieser Nase herumgezogen. 

Männer, die von dieser Regel eine Aus- 
nahme machen und die Frauen durch- 
schauen, sind für die Frauen unwiderstehlich, 
vorausgesetzt, daß sie zugleich die großen 
Horizonte umfassen. Ist dies aber nicht der 
Fall, so werden sie von ihnen verachtet. 

Es ist ein Stück Atavismus, daß raffi- 
nierte Männer die Frauen mißhandeln, um 
von ihnen geliebt zu werden. Die Wüden 
fingen die jungen Mädchen ein, betäubten 
sie mit Keulenschlägen und schleppten sie 
in ihre Hütten. Es war dies die Form der 
Werbung, durch die sie auf die Liebe vor- 
bereitet wurden, und noch heute gibt es 
Beispiele genug, wo diese Form, ins Mo- 
ralische übertragen, mit Erfolg angewendet 
wird. 

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„Ist es dem Menschen nicht gestattet, 
Tiere zu jagen, Bäume zu fällen für seine 
Notdurft zur Speisung und Heizung; Blumen 
zu pflücken zur Lust seiner Augen? Und 
sollt’ ich, ein Mann, nicht zum Spiel das 
niedere Wesen, das Weib, mir pflücken?“ 

Nur immerzu! Pflücke so viel du 
pflücken kannst, von dem, was niedrig 
wächst, du brauchst dich nur zu bücken. 
Wenn du dich am Ende deiner Bahn be- 
sinnst, so wirst du finden, daß du selber 
der Zerpflückte bist. 

Schwachheit des Weibes! Ja, sie ist un- 
aussprechlich, es gibt nur ein Geschöpf, das 
schwächer ist — der Mann! 

Die schönen Frauen sind dem Manne im 
ganzen nicht sehr gefährlich, denn sie 
machen Ansprüche, die er sich schwer auf 
die Dauer gefallen läßt. 

Was er zu fürchten hat, ist eine gewisse 
Sorte Frauen, die von der Natur mit wenig 

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Reizen und gar keinen inneren Gaben aus- 
gestattet sind. Das sind die Schmarotzer- 
pflanzen des weiblichen Geschlechts. Sie 
haben nichts, als ihre Bedürftigkeit, womit 
sie sich am Manne anklammern und fest- 
saugen. Sie kriechen am Boden hin und 
umschlingen ihn von unten auf. Sie haben 
keinen Willen, keine Gedanken, keine eigene 
Geschmacksrichtung, sie haben nur den 
Trieb, sich festzuklammem, sie fordern keine 
Achtung, dulden jeden Fußtritt, arten sich 
nach Belieben um, aber halten fest. Die sind 
es, die das Unglück des ganzen Geschlechtes 
in der Liebe verschulden. Sie entwerten die 
Weiblichkeit. Sie sind wie die niedrigen 
Konkurrenzgeschäfte, die durch Schleuder- 
preise den anständigen Handel verderben. 
Das Nachbeten und Anräuchem, woran sie 
den Mann gewöhnen, fordert er dann vom 
ganzen Geschlechte als sein Recht. 

Es gibt für einen geistig hervorragenden 
Mann — sei er Künstler, Gelehrter oder was 
auch immer — keine gefährlichere Klippe als 



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weibliche Bewunderung. Wenn sich eine An- 
zahl alleinstehender Damen, besonders Wit- 
wen, um ihn festsetzt, die ihn als Orakel 
verehren, so muß er sich selber scharf in 
Obhut nehmen, sonst machen sie ihn erst 
eitel, dann unduldsam gegen andere Meinung 
und schließlich gegen alles, was nicht von 
ihm selber ausgeht, voreingenommen. 

Der männliche Geist neigt ohnehin viel 
leichter zum Erstarren; tritt noch die Selbst- 
gefälligkeit hinzu, so wird ihm jeder eigene 
Gedankenfund zum Unumstößlichen, Abso- 
luten, und ein Mensch, der zu fortschreiten- 
der Entwicklung berufen war, trägt sich am 
Ende mit lauter fertigen Begriffen, die nichts 
sind, als die Totenstarre seines Geistes. 

Umgekehrt können geistvolle Frauen 
durch männliche Huldigungen nie so ver- 
derbt werden. Ihre größere Beweglichkeit 
läßt kein Erstarren zu, ihr Geist wird im 
Gegenteil immer flüssiger und feuriger, wenn 
er auf andere Geister wirken kann, und — 
„die Arge liebt das Neue.“ Besseres Zeugnis 
ist ihr nie aus Männermunde gegeben worden. 



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DIE DRITTE. Hier sei eine Warnungs- 
tafel für Liebende aufgestellt. Ich male dar- 
auf das Bild der Dritten. 

Sie wird in jedem Jahrgang geboren und 
kann jedes beliebige Äußere haben, aber am 
liebsten denke ich sie mir in ihrer völlig 
typischen Gestalt. Da ist sie lang und schlank, 
farblos und geschmeidig, mit langen Armen, 
die wie zum Umschlingen, mit Händen, die 
zum Greifen gemacht sind. Ihre Füße 
huschen, man hört nicht, wo sie geht. Schön 
ist sie niemals. Sie hat niemals einen eigenen 
Gedanken, ihr Geist ist eine ganz weiche 
Masse, die sich bequem in jede Form gießen 
läßt. In weiblichen Augen ist sie ein reines 
Nichts, durch das kein blühendes, gesundes 
Weib sich in seinen Rechten bedroht fühlt. 
Darum wird sie gerne von den Ehefrauen 
protegiert, besonders von den eifersüchtigen, 
die kein glänzendes Mädchen um sich dulden 
würden. Ihr Ruf ist der beste und schwer 
zu erschüttern. „Die Arme,“ heißt es, „sie 
hat ja gar keine Reize.“ Sie schleicht sich 
in einen Haushalt ein, erweist sich der Frau 
hilfreich, dem Manne unentbehrlich. Immer 

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ist es die Frau, die ihr die Tür geöffnet hat. 
Aber sie ist ein gefährliches Nichts. Ihr 
ganzes Innere ist eine große Leere, die auf- 
gähnt nach dem Mann, sie will ihn an sich, 
in sich reißen, ihre Arme begehren ihn zu 
umstricken, ihr Geist begehrt sich mit seinem 
Geist, ihre Seele sich mit seiner Seele zu 
füllen. Sie ist das Raubtier unter den Wei- 
bern. Ihre Beute werden nur die schon ge- 
bundenen Männer, den Junggesellen ist sie 
nicht gefährlich, sie ist als Dritte geboren; 
kein Mann würde sich mit Absicht an sie 
verschenken. Aber der Ehemann glaubt 
keinen Grund zur Vorsicht zu haben; ihm 
tut es wohl, ein Weib, das er für gänzlich 
uninteressiert halten muß, um seine Person 
beschäftigt zu sehen. Sie drängt sich leise, 
unmerklich an ihn heran, sie lauscht ihm 
seine kleinen Eigenheiten ab, denen sie zu 
schmeicheln versteht, sie merkt auf seine 
Gewohnheiten und ist vor allem beflissen, 
ihm immer Recht zu geben. Hat er irgend 
einen besonderen Hang, auf den die Frau 
nicht einzugehen vermag, die Dritte spürt 
ihn auf, zieht ihn durch ihr Entgegenkommen 






groß. Spricht der Mann, so ist sie ganz 
Ohr, sie saugt Nahrung aus seinem Geiste, 
und ihm ist dabei so behaglich, wie einer 
Mutter, die die Milchströme in ihrem Busen 
rinnen fühlt. 

Zuerst ist die Zufriedenheit der Ehe- 
gatten durch sie gesteigert, sie haben einen 
Ableiter für die Stunden, wo sie glücksüber- 
sättigt zur Verstimmung neigen, sie ahnen 
keine Gefahr. Aber ihre einsamen Spazier- 
gänge werden seltener, der Mann merkt, daß 
ihm etwas fehlt, wenn die Dritte nicht zu- 
gegen ist, er fühlt das Bedürfnis, von Dingen 
zu reden, die zwischen ihr und ihm angeregt 
sind und woran die Frau schon keinen Teil 
mehr hat. Sind erst diese heimlichen Fäden 
zwischen ihnen gezettelt, so hat die Frau, 
wenn sie eine reine, edle Natur ist, schon 
verloren, und es liegt nur an der Dritten, wie 
lange sie das Zusammenleben der Gatten 
noch dulden will. Nur wenn die Frau selber 
vom Raubtiergeschlecht ist, wenn sie sich 
auf das Ducken und Schmiegen, auf das 
Leisetreten und Huschen und Starkanpacken 

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SS 






versteht, so kann sie sich der Dritten noch 
erwehren. 

Der Mann, der einem solchen Weibe 
verfällt, ist rettungslos verloren. Sie saugt 
seinen Geist, er bleibt ihr aber nicht; wie 
allzu gierige Säuglinge verschüttet sie die 
Nahrung und bleibt immer leer; sie zieht 
den Mann mit hinab in ihre gähnende Leere. 
Bald erträgt er keine Gesellschaft mehr, als 
nur die ihre. Der Widerspruch, dessen sie 
ihn entwöhnt hat, dünkt ihm eine Beleidi- 
gung, je kleiner er wird, um desto größer sieht 
er sich. Er ist unglücklich, weil die Welt 
ihn nicht ebenso groß sehen will, er ver- 
bittert und fühlt sich nur noch wohl neben 
seiner Vergifterin, die nun die Dosis immer 
mehr verstärken muß, bis sie ihn durch ihre 
Schmeichelei ganz verdummt hat und ihn 
jetzt selber nicht mehr ertragen kann. Ihr 
zehrendes Verlangen hat sie unterdes ge- 
stillt und kann sich nun anderswohin wen- 
den; sie läßt ihn dann ganz hohl und aus- 
geleert zurück. Manchmal bleibt sie auch 
bei ihm, aus äußeren Gründen, dann be- 
handelt sie ihn schlecht und rächt sich für 



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die Schmeichelei, die sie an ihn ver- 
schwendet hat. 

So deutlich ich sie hier gemalt habe, 
kein Mann wird die Dritte erkennen, wenn 
er ihr begegnet, nur Frauenaugen sind scharf 
genug, sie zu durchschauen. 

BOA CONSTRICTOR. Im Deutschen 
ist die Schlange weiblichen Geschlechts, und 
man hat ihre Prädikate so oft auf die Evas- 
tochter übertragen, daß man sich die alte 
Feindin des Menschengeschlechtes immer 
in Weibsgestalt denkt. Eine Schlangenart 
aber gibt es, die in allen Sprachen männlich 
ist: der Boa Constrictor. So sei einmal zur 
Abwechslung dieser vorgeführt. 

Er ist iihmer ein Mann von glänzenden 
Gaben, der aus Mangel an irgend einer wich- 
tigen Qualität darauf verzichten muß, sich 
im Leben hervorzutun und unter Männern 
etwas zu gelten. Darum wirft er seinen Ehr- 
geiz und seine Herrschsucht auf das weib- 
liche Geschlecht. Seine Opfer werden vor- 

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zugsweise die geistvollen Frauen; den 
Dutzend weibern ist er viel weniger gefähr- 
lich, er stellt ihnen auch nicht nach, denn 
er sucht nicht, was sonst der Mann beim 
Weibe sucht. Er sucht nur das Geistige in 
ihr, das Seelische, das innerste, weibliche 
Selbst, für das der normale Mann zu grobe 
Finger hat. Durch das Mitteilungsbedürfnis 
bemächtigt er sich ihrer Seele, wie es der 
katholische Priester tut, und wie dieser wird 
er ihr unumschränkter Herr und Gebieter. 
Die femme incomprise ist gar nicht die 
lächerliche Figur, als die sie in der älteren 
Literatur hingestellt wurde. Sie existiert über- 
all, wo ein begabtes oder auch nur eigen- 
tümliches Weib existiert, denn auch die 
Männer, die uns am stärksten lieben, denken 
nicht daran, unser tiefstes Sein belauschen 
zu wollen, dazu sind sie viel zu sehr mit 
sich selbst, mit ihrer Leidenschaft beschäftigt. 
Oft sind es gerade die gefeiertsten, die an- 
gebetetsten Frauen, die völlig ausgehungert 
sind nach ein wenig Verstandensein. Wenn 
einer solchen der Boa Constrictor begegnet, 
so hat er mit seinen spürenden Sinnen gleich 



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ihre individuellsten Bedürfnisse herausge- 
tastet, er fühlt ihre feinsten Nervenschwingun- 
gen mit, denn von da aus wird er sie packen, 
zusammenschnüren, erwürgen. Sein Opfer 
verehrt in ihm den Weisesten und sittlich 
Höchsten aller Männer, weil er nicht auf 
das Weib, sondern auf das Individuum in 
ihr lauert. Den Mißton, der der ersten be- 
geisterten Annäherung folgt, schreibt sie ihrer 
eigenen Unvollkommenheit zu, sie strebt, 
sich zu veredeln, um ihm näher zu sein, 
und nun spielt er nach Laune auf ihrer 
Seele. Je höher ihr Ernst, desto wilder sein 
Spiel; er verwandelt sich unablässig unter 
ihren Händen und ergötzt sich an ihrer 
Seelenqual, bis all ihre Saiten reißen. Denn 
er ist der geborene Frauenhasser: er rächt 
an ihr seinen Unmut darüber, daß es nur 
ein Weib ist, das er beherrschen kann. 

Den Männern geht er instinktiv aus dem 
Wege, desgleichen solchen Frauen, von 
denen er sich durchschaut fühlt. Seine Ge- 
sellschaft wird auch allen denen, die nicht 
unter seinem Zauber stehen, in Bälde un- 
erträglich, denn er kann über keinen Gegen- 

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stand sachlich reden. Überall scheint die 
persönliche Absicht durch, alles wird dehn- 
bar, schillernd in seinem Munde. Nur seine 
verblendeten Opfer hängen bis zum letzten 
Augenblick an ihm fest, weil er fort und 
fort die Illusion zerstört und wieder erneuert, 
als ob das Ich bei ihm seine trauteste Heim- 
stätte finden könnte. 

Besonderes Merkmal: er ist niemals ein 
Don Juan, bei seinen Eroberungen will er 
nur das Machtgefühl auskosten, die Sinne 
sprechen nicht in ihm. Am ehesten hat er 
seinesgleichen unter den Jesuiten, den feinen, 
hochgebildeten, die, um zu herrschen, den 
Umweg über das weibliche Herz nehmen. 
Aber die Jesuiten dienen dabei einem höheren 
Zweck. Sein Zweck ist ein Widersinn : 
Herrschen und das Beherrschte zerstören. 

Gesteigertes Lebensgefühl in einer Fa- 
milie, das bei den männlichen Gliedern oft 
zum Wechselmord und zu Verbrechen aller 
Art geführt hat, bringt die herrlichsten 
Frauentypen hervor. Das sieht man an vielen 

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Frauen der Geschichte, besonders an denen 
der italienischen, Renaissance und der griechi- 
schen Mythe, die eine vergeistigte Geschichte 
ist; am schönsten stellt es sich in Goethes 
„Iphigenie“ dar. 

Wenn das Weib durch starke Rasse- 
anlagen über den seelischen Indifferenzpunkt, 
auf dem es gewöhnlich steht, hinaufgehoben 
wird, so können die positiven Elemente vor- 
walten, und es kann ein Bild vollkommenster 
Menschlichkeit entstehen. Dieselben Anlagen 
treiben den Mann, bei dem ohnehin die Hem- 
mungen schwächer sind, auf eine Spitze, 
wo er sich überschlägt und ins Ungeheure 
stürzt. 

Jede begabte Frau sollte ihrem Ge- 
schlecht eine Wohltat hinterlassen, wie Für- 
sten an armen Orten, wo sie verweilt haben. 

Der Mann hat durch Zuchtwahl Jahr- 
hunderte lang die Eigenschaften, die seinem 
Herrscher- und Besitzerinstinkt bequem 

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waren, an der Frau groß gezogen, er hat 
sie so lange an ihr gepriesen und besungen, 
bis die Frau in sein Ideal hineinwuchs. Er 
hat moralische Hypertrophien gezüchtet und 
sich dabei verrechnet, denn Prüderie zum 
Beispiel und Tugend sind grundverschiedene 
Dinge. 

Man hatte sie so gewöhnt, sich dem 
vom Manne geprägten Typus anzupassen, 
daß sie gar nicht mehr wagte, ihrem In- 
stinkte zu folgen, oder ihr Instinkt lag selber 
im Bann der Suggestion. Da ist es denn so 
weit gekommen, daß die meisten Frauen 
heutzutage nicht nur nicht wissen, wie sie 
über eine Sache zu denken haben, sondern 
nicht einmal, wie sie fühlen sollen, bevor 
ihre Männer ihnen die Richtung geben. Man 
zeige ihnen die Erwartung, daß sie sich 
choquiert fühlen, und sofort fließen sie vor 
Entrüstung über, wo sie eben noch bereit 
waren, Beifall zu klatschen. 

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Gibt es etwas Dümmeres, als das Protzen 
auf sein Geschlecht? Kann sich ein geist- 
reicher Mann auf eine Eigenschaft etwas 
einbilden, die er mit unzähligen Nullen ge- 
mein hat? 

** 

Die Juden hatten von alters her in ihrem 
täglichen Gebet den Spruch: „Herr Gott, 

ich danke dir, daß du mich als Mann ge- 
boren werden ließest.“ Seit aber der moderne 
Geist auch in den Mosaismus eingedrungen 
ist, glaubte man dem weiblichen Geschlecht 
einen Ausgleich schuldig zu sein, und die 
rechtgläubige Jüdin betet allmorgendlich an 
derselben Stelle: „Herr Gott, ich danke dir, 
daß du mich als das, was ich bin, geboren 
werden ließest“ — soll heißen : nicht als 
Mann. So ist der Judengott jetzt in der 
glücklichen Lage, es allen Teilen recht ge- 
macht zu haben. 

n 

Gottfried Keller, den wir so gern als 
den Unsrigen ansprechen, zeigt sich der Frau 
gegenüber nicht als Deutscher. Seine Weiber 

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sind viel kräftiger, vollsaftiger, herrschender, 
als die der deutschen Dichter. Hätte ein 
deutscher Dichter eingestanden, daß der 
wichtigste geistige Prozeß, der sich in ihm 
vollzog, der Bruch mit dem religiösen Her- 
kommen, durch ein junges Mädchen angeregt 
wurde, das nicht an Unsterblichkeit glauben 
konnte ? 

Gleichklang gibt keine Harmonie. Es 
kann in der großen Symphonie der Zukunft 
nicht Aufgabe des Weibes sein, dieselbe 
Stimme zu singen, wie der Mann. Nur dann 
kann sie die Kultur fördern helfen, wenn 
sie es wagt, einmal hell und klingend ihre 
eigene Stimme hören zu lassen, von der man 
erst vereinzelte Töne vernommen hat. Ja, 
wären nicht die großen Dichter, die immer 
ein doppeltes Geschlecht haben, so hätte 
kaum je ein Laut die dichte Atmosphäre, 
in der die Seele des Weibes lebt, durch- 
drungen. Denn wie die Frau vom öffent- 
lichen Leben ausgeschlossen war, so durfte 
sie auch am häuslichen Herde nicht sie selber 

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sein : sie mußte sich vor dem Manne scheuen, 
der ihre Seele ein für alle Mal in bestimmte, 
von ihm geschaffene Formen gegossen sehen 
wollte, und noch zehnmal mehr vor ihrem 
eigenen Geschlecht, das sich in seiner Masse 
so gern zum Polizeidiener der Konvention 
hergibt. Jene Großen haben es der Welt 
verraten, wie der Seher Tiresias, was in den 
Stunden, da sie Weib waren, mit ihnen vor- 
gegangen ist. Aber auch sie konnten nur 
unser Fühlen ahnend verdolmetschen, 
unser geistiges Ich, wer hat es je vertreten? 
Und wir selber, vertrauen wir ihm zur Stunde 
schon genug, um damit nicht bessere, aber 
andere Dinge aus der Natur herauszuholen 
als der Mann? 



Was ist es nun, wodurch wir uns im 
Durchschnitt vom Manne zu unseren Gun- 
sten unterscheiden ? „Der Instinkt,“ so pflegte 
er bisher mit mißverstandener Herablassung 
zu sagen, wie man etwa dem Tiere die Über- 
legenheit des Instinktes zugesteht. Aber wir 

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dürfen uns das Kompliment gefallen lassen. 
Es ist eine hohe Sache um den menschlichen 
Instinkt. Was sich dahinter birgt, ist eine 
starke psychologische Anlage, die, wo sie 
ihrer selber nicht bewußt wird, triebartig 
wirkt. Diese Gabe, nur auf persönliche Dinge 
angewandt, hat freilich unser Geschlecht in 
den verdienten Ruf der kleinlichen Berech- 
nung .und Ränkespinnerei gebracht; in 
höherem Sinne und in weiterer Sphäre wir- 
kend, würde sie zur Wohltat für die Mensch- 
heit. Denn Psychologie ist es, was dem ver- 
worrenen Weltgetriebe vor allem not tut, 
sie müßte die Begleiterin des abstrakten 
Rechtssinns werden, sie müßte mit ihrer 
Fackel in alles Erziehungswesen leuchten, 
sie müßte überall, wo Menschen Zusammen- 
wirken, der strengen Sachlichkeit die Auf- 
sicht führen helfen. 

Nicht, als ob nun alle Frauen eine psy- 
chologische Anlage hätten und als ob allen 
Männern diese Eigenschaft mangelte. Es 
gibt Männer, die sie im allerhöchsten Grade 
besitzen — sonst gäbe es ja keine Dichter. 

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Allein die Dichter sind auch niemals die 
Repräsentanten einer ausgeprägten, einseiti- 
gen Männlichkeit. Es gibt hervorragende 
Frauen, denen sie gänzlich fehlt, aber eben 
an ihnen kann man die Probe auf den Satz 
machen, denn es pflegen diejenigen Frauen 
zu sein, die überhaupt in ihrer Handlungs-, 
ihrer Denk- und Sprechweise etwas Ab- 
straktes, Prinzipielles haben und sich damit 
dem Wesen des Mannes annähern. Den Sinn 
für die heimlichsten Ursprünge des mensch- 
lichen Handelns wird man jedenfalls für ein 
Merkmal der weiblichen Natur gelten lassen 
müssen. 

Dann wird die Frau frei und geachtet 
sein, wenn man von der bedeutenden Lei- 
stung eines Weibes nicht mehr sagen wird, 
daß es eine männliche Leistung sei. Wie, 
zum Lohn dafür, daß sie euch entzückt und 
gehoben oder gefördert hat, wollt ihr sie 
ihres Geschlechtes berauben und erklärt sie 
für ein Versehen der Natur? Es kann nichts 
Gedankenloseres geben. Die wahrhaft origi- 

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nelle Leistung eines Weibes wird auch alle- 
mal eine weibliche Leistung sein. 

Wenn das taktlose Kompliment aus 
Männermunde kommt, so ist es nur als wohl- 
gemeinte Unschicklichkeit anzusehen, daß 
aber der Chor der Frauen es nachbetet, statt 
die Persönlichkeit, an die es gerichtet ist, 
nach ihren innersten Merkmalen für sich zu 
fordern, ist eine Selbstentwürdigung, es 
heißt mit anderen Worten: Was kann aus 
unserem Armenviertel Gutes kommen! 

9 * 



So lange die Frau wie ein Mond den 
Mann umkreist, daß nur die eine ihm zuge- 
wendete Seite beleuchtet ist, während nach 
der anderen unbekannten niemand fragt, so 
lange ist es unmöglich, sich über die Fähig- 
keiten der weiblichen Natur überhaupt ein 
Urteil zu bilden. Man hat bisher das künst- 
liche Durchschnittsprodukt der Töchterschule 
als natürlichen Normaltypus, höher geartete 
Frauen aber als Ausnahmen, gewissermaßen 

59 



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SS 






BgafiBSBCI 



als geistige Mißgeburten hingestellt und ist 
so zu einem ganz falschen Bild des Weibes 
gekommen. Gerade wie wenn man aus dem 
Mittel der durch Schuhwerk verkrüppelten 
Europäerfüße die Norm des menschlichen 
Fußes ableiten wollte. 

Was die Frau im Durchschnitt als Ge- 
sellschaftswesen wert ist, darüber kann man 
erst reden, wenn sie sich einmal ungehindert 
mehrere Generationen hindurch nach ihren 
inneren Gesetzen entwickelt hat — wenn sie 
endlich als ein Gestirn erscheint, das sich 
um seine eigene Axe dreht und sein Licht 
von der gemeinsamen Sonne empfängt. 

Wenn die ungeheuren Anforderungen 
der modernen Zivilisation den Mann immer 
mehr zum Fachmenschen plattdrücken und 
ihm die Zeit zur humanistischen Ausrundung 
beschränken, so muß es Sache der Frau 
werden, der Menschheit ihre höchsten Erb- 
güter zu bewahren. Nach diesem Ziele hat 
die unaufhaltsam gewordene Frauenbewe- 
gung, die zunächst nur praktische Zwecke 

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verfolgt, allmählich umzulenken. Denn wenn 
es sich bei all dem Kraftaufwand immer nur 
um die Förderung und ökonomische Siche- 
rung einzelstehender weiblicher Wesen, also 
um den Ausnahmefall handeln sollte, so 
wäre der Preis zu klein für so viel Mühe. 
Ein viel höheres Ziel muß gesetzt, ein all- 
gemeinerer und noch viel zwingenderer Not- 
stand muß gehoben werden: wir brauchen 
eine stärkere, adligere Mutter für die künfti- 
gen Geschlechter, als die Durchschnittsfrau 
von heute. 

Bisher hießen die höchsten Tugenden 
der deutschen Frau : Unterwerfung und Ent- 
sagung. Die deutsche Nation in ihrer langen 
wirtschaftlichen Misere brauchte jenen Typus 
des weiblichen Lasttieres (der nun schon 
der Vergangenheit anzugehören beginnt), und 
deshalb züchtete sie ihn, indem sie ihn mit 
unbewußter Absicht zum Ideal erhob. Kein 
anderes modernes Kulturvolk hat ein so nie- 
driges, nur auf Unterdrückung der Persön- 
lichkeit beruhendes Frauenideal geschaffen 
wie das deutsche. Man denke nur an Shake- 
speares Frauencharaktere oder an die weib- 

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liehen Lieblingsgestalten der italienischen 
Renaissance. Aber auch der Deutsche kannte 
dieses Ideal der negativen Frauentugenden 
erst, seitdem er es brauchte. Die deutsche 
Edeldame des Mittelalters war sogar gebil- 
deter als der Edelmann, und man fand dies 
nicht unweiblich, sondern ganz natürlich : 
sie hatte ja mehr Zeit zum Lesen und zum 
Verkehr mit den wandernden Sängern, als 
ihr beständig in Raufhändel verwickelter Ehe- 
herr. Erst die tiefe, dauernde Verarmung 
der Nation nach dem dreißigjährigen Kriege 
mit dem Niedergang alles dessen, was das 
Leben schmückt, erzeugte jenen Frauen- 
typus, dessen höchstes Streben auf Selbst- 
entäußerung gerichtet war. Sonst pflegen in 
Zeiten vaterländischer Not die Frauen ihr 
Geschmeide darzubringen. Die deutsche Frau 
hat viel, viel mehr geopfert: die Grazie, die 
Eleganz, die Bildung, die gesellschaftlichen 
Reize und Talente und noch anderes mehr, 
das sonst allerwärts der Frauen Erbteil ist. 
So wurde sie die ungraziöse, pedantische, 
kleinliche, aber nützliche deutsche Haus- 
frau, deren Mangel an Form sich beim Sohn 

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HS 



aufs Geistige übertrug, so daß Formlosigkeit 
vom deutschen Geiste unzertrennlich ge- 
worden schien. Noch mehr, sie opferte so- 
gar ihr Geschlecht: in den Familien, wo 
die Mittel nur zur Ausstattung der Söhne 
reichten, da wurde sie, ohne zu rebellieren, 
die einsame, lächerlich gemachte, von aller 
Welt herumgestoßene „alte Jungfer“. Man 
könnte sagen: Mit dem gemeinsamen Spar- 
pfennig der „guten Hausfrau“ und der „alten 
Jungfer“ ist der große deutsche Gelehrten- 
typus erzogen worden. Freilich hat dieses 
Opfer der Frauen Deutschland in seiner 
schlimmsten Zeit über Wasser gehalten und 
ihm seinen geistigen Rang unter den Na- 
tionen bewahrt. Die Tränen aber und die 
Schweißtropfen, die darum vergossen wur- 
den, hat niemand gezählt. Niemand fragt, 
wie viel blühende, gesunde Gestalten, ver- 
kümmert und zur Unfruchtbarkeit verdammt, 
in den Winkel geworfen wurden, um Stuben- 
hocker groß zu ziehen, aus denen dann in 
tausend Fällen einmal eine Leuchte der 
Wissenschaft hervorging. 

Heute steht es anders. Die negativen 



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Frauentugenden sind auch in Deutschland 
überflüssig geworden, seitdem die Nation 
sich regen kann. Die deutsche Frau möge 
nun den abgelegten Schmuck wieder hervor- 
suchen, um würdig unter ihren Schwestern 
zu erscheinen. Aber sie hat noch mehr zu 
tun als das. Wenn der männliche Geist, 
dank der Spezialisierung aller Wissenschaft, 
einmal der Doppelaufgabe nicht mehr ge- 
wachsen sein wird, die neuen wissenschaft- 
lichen Ernten einzuheimsen und die vollen 
Scheunen des Altertums zu bewahren, dann 
muß die gebildete Frau an seine Seite treten 
und die Lücke füllen. Früher schuf er die 
geistige Atmosphäre, und die Frau hatte im 
günstigsten Falle als Genießende daran Teil. 
Es dürfte eine Zeit kommen, wo er ihr ge- 
rade auf diesem Punkt als der Empfangende 
gegenüberstehen wird. Er nehme ihr nur den 
Kampf ums Dasein, der ihr auf die Länge 
doch zu hart sein dürfte, wieder ab, dafür 
wird sie ihm Hüterin der geistigen Schätze 
werden, wie sie es bisher nur der materiellen 
war. Zweifelt nicht, daß sie sich trefflich 
zu diesem Amte eignen wird. Ihr Geist ist 

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noch jugendlich, unverbraucht, nicht durch 
tausendjährigen Drill verdorben, ja und ich 
wage mir einzubilden, daß er bei seiner 
größeren Beweglichkeit überhaupt nicht so 
leicht zu verderben ist. Jedenfalls wird er 
auf lange Zeit im stände sein, sich selbst 
gegen ein verkehrtes Schulsystem zu halten, 
bis dann endlich unter seiner Mitwirkung 
auch dieses verkehrte System gebrochen 
wird. 

Kein Zweifel, die Herkulesarbeiten der 
Zukunft werden wie die der Vergangenheit 
vom männlichen Geschlecht verrichtet wer- 
den. Der Frau liegt es ob, den würdigen 
Kulturhintergrund für die Taten der künftigen 
Heroen zu schaffen, damit die Menschheit 
nicht trotz ihrer Gottähnlichkeit in die Bar- 
barei zurückfalle. Etwas ähnliches fühlen 
schon die Amerikaner von heute, die es 
richtig finden, daß ihre Frauen sich eine 
feinere Bildung aneignen, als ihnen selbst 
die Geschäfte gestatten. Nur daß diese Bil- 
dung, weil sie aus literarischen Modeerzeug- 
nissen besteht, der Nation auch bloß äußer- 
lich zu gute kommt. Die tief sprudelnden 

65 5 



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Quellen einer klassisch-humanistischen Bil- 
dung allein haben die innere, lebenwirkende 
Kraft. Diese Bildung muß vom häuslichen 
Herde ausgehen, denn bei Bilderbuch, Lied 
und Märchen liegt der Anfang aller Kultur. 
Götter und Heroen sind zu Spielkameraden 
der Kindheit eben gut genug. Dann mag man 
immerhin dem Jüngling die Zeit für die klassi- 
schen Studien beschränken, die Mutter hat 
ihm den Weg nach Rom und Hellas ab- 
gekürzt, und sollte ihm je im Dienste exakter 
Wissenschaften ein Teil der ererbten Schätze 
abhanden kommen, so muß er sie später an 
seinem eigenen Herde wiederfinden. 

Vielleicht wird Männerstolz und -Vor- 
eingenommenheit ungern eine so große 
Macht in die Hände der Frauen übergehen 
sehen. Die einen werden fürchten, daß die 
Frau Herrschaftsgelüste bekomme, die an- 
deren, daß die häusliche Bequemlichkeit dar- 
unter leide. Unbesorgt, ihr Kleingläubigen. 
Der Geist ist überall ein gar brauchbares 
Ding und selbst für die kleinste häusliche 
Verrichtung gut. Und was das andere be- 
trifft — so lange es Männer gibt, war es ihr 

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Los, von Frauen unterjocht zu sein. Schon 
die Sprache plaudert dieses Geheimnis aus. 
Die niedrigste Maitresse ist eine „Gebieterin“. 
Ist es nicht besser, eine kluge Freundin, als 
eine stumpfsinnige Gebieterin zu haben? 

Freilich, es hat noch gute Wege, bevor 
die Frau diese Höhe ersteigt. Was sich heute 
unter dem Titel des „modernen Weibes“ 
spreizt, jene seltsame Mischung von Prä- 
tension und Unzulänglichkeit, die auf wirk- 
liches Können noch nicht eingerichtet ist 
und das Opferbringen verlernt hat, das ist 
eine unreif gefaulte Frucht am Baum der 
Zivilisation. 

Geistreiche und schöpferische Frauen 
haben in unseren Tagen mit Bewußtsein un- 
bedeutende Männer geheiratet, bloß weil diese 
jung und hübsch waren, und haben sich 
mit der Befriedigung der Sinne befriedigt 
erklärt. „Mein Mann braucht keinen Geist 
zu haben, wenn er mir nur gefällt,“ denken 
sie mit überlegenem Lächeln, wenn sie auch 
noch nicht so weit gehen, es auszusprechen. 

67 5 * 



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SMggaggas 



Die Natur bäumt sich auf, aber das Experi- 
ment, einmal gemacht, findet Nachahmung. 
— Und hat nicht auch die Natur sich auf- 
gebäumt, als zum ersten Mal der Mann seine 
Genossin zum Haustier erklärte? 

NIETZSCHE UND DIE FRAUEN. 
Nietzsches Werk ist im Grunde selbst ein 
„Sklavenaufstand“. Die Werte, die er um- 
werten will, kleben noch an ihm fest, er ringt 
mit ihnen, bald wird er Meister über sie, 
bald sie über ihn. Ist es nicht ein ganz breites 
Stück Philisterium, wenn er, wie in der Bio- 
graphie seiner Schwester zu lesen steht, dem 
kleinen Mädchen den Homer, für den er 
selbst begeistert ist, als unpassend verweist? 
Mädchen sollen keinen Teil am Größten, 
Wahrsten, Einfachsten haben, das den Men- 
schen auf den Boden der Natur zurückver- 
setzt ! Und warum ? Er sagt es uns nicht. Für 
Mädchen paßt die biblische Geschichte, sagt 
er, gerade wie der Herr Pfarrer oder der 
Herr Schulmeister sagen würde. — Und eben 
weil er noch die Spuren der alten Ketten an 

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sich trägt, deshalb laufen ihm die Freige- 
lassenen aller Länder in Scharen zu. Die 
Freigeborenen haben nichts bei seiner 
Fahne zu suchen. 

Daß er mit dem Hergebrachten nicht 
fertig geworden ist, beweist er durch seine 
Stellung zum Weibe, der Amme und Er- 
zieherin des Menschengeschlechts, die alle 
Saat der Zukunft sät. In seinem Haß gegen 
den „Feminismus“ vergißt er ganz, daß es 
die kräftigsten, jugendlichsten Rassen sind 
und waren, die der Frau die überlegenste 
Stellung eingeräumt haben: im Altertum die 
Dorer und unsere germanischen Vorfahren, 
in unserer Zeit die Amerikaner, denen man 
doch Männlichkeit nicht absprechen wird. 
Wogegen der weichliche und weibische 
Orient die tiefste Unterdrückung des Weibes 
erfand. 

Nietzsche ruft Wehe über das Weib, 
das sich vor dem Manne nicht mehr fürchtet. 
Aber wo sind denn die Männer, vor denen 
das Weib sich heutzutage „fürchten“ kann? 

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tgSSW 

Das männliche Ideal ist dem Weibe zerstört, 
seitdem das Zeitalter nur Spezialisten auf 
jedem Gebiet heranzieht. Sein Dämonisches 
ist von dem Manne gewichen, und damit hat 
alles „Fürchten“ ein Ende. Keine Unab- 
hängigkeit des Weibes kann dem Manne den 
Zauber nehmen, den er auf sie ausübt, wenn 
er sich nicht selber sein begibt. Laßt nur 
einmal ein neues, starkes Geschlecht von 
männlichen Männern kommen, und alle Aus- 
artungen der Frauenbewegung werden in sich 
zusammensinken, wie ein Luftkissen, dem 
sein Inhalt entströmt. Das Fürchten aber 
wird ein gegenseitiges sein, wenn die beiden 
sich in Zukunft finden und jedes vor dem 
ihm unbekannten Dämon des andern er- 
schrickt. Denn was kann dem Weibe Über- 
raschenderes und Größeres begegnen, als 
ein Mann, der diesen Namen verdient, was 
kann dem Manne fremdartiger und be- 
zaubernder kommen, als das starke, seiner 
eigenen Natur bewußte Weib. Wo die zwei 
sich begegnen, da werden sie sich so über- 
mächtig anziehen und doch auch durch ihre 
innere Verschiedenheit weit genug abstoßen, 

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daß sie gezwungen sind, in Ewigkeit als 
ein Doppelgestirn eins um das andere zu 
schwingen. Oder sie werden mit solchem 
Prall zusammenstoßen, daß beide Teile unter 
einem Feuerregen in Stücke gehen. Aber am 
meisten dabei gewinnen wird die Poesie, 
die wieder einmal große Leidenschaften zu 
besingen haben wird, wie in jenen Tagen 
der Vergangenheit, wo Mann und Weib ein- 
ander die Wage hielten. 

Die italienische Renaissance, die mit ihrer 
gewaltigen Bejahung der Persönlichkeit auch 
dem Weibe die positiven Eigenschaften 
abforderte, stellte neben ihre grandiosen 
Männergestalten fort und fort ebenbürtige, 
herrliche Frauen, die teils sichtbar, teils un- 
sichtbar in das Ringen der Zeit eingriffen. 
Niemand nannte diese Frauen unweiblich, 
denn es war ja gerade die Entfaltung ihrer 
weiblichen Natur, die sie berechtigte, 
neben die Männer zu treten, wie siegver- 
leihende Göttinnen neben ihre Heroen. Alle 
Leidenschaften wurden aufs höchste ge- 
spannt und entluden sich in unvergänglichen 
Werken und in unvergeßlichen Verbrechen. 



7i 

N 



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Aus der Annäherung der beiden Geschlechter 
in dieser gespannten Atmosphäre erwuchs 
eine Menschensaat, in der die großen Genien 
wie Halme auf schossen. Kein Wunder, daß 
ihre Zahl unendlich wurde, als sollte ein 
neues Titanengeschlecht sich über die Erde 
verbreiten, bis die anflutende Barbarei dem 
Treiben und Sprossen ein Ende machte. So- 
bald nun das stiller werdende Leben das 
Weib auf seine negativen Eigenschaften 
zurückverwies, und darum auch sie aufhörte, 
dem Mann sein Äußerstes im Guten und 
Bösen abzulocken, wurde neben dem allge- 
meinen Rückgang der Nation auch der Ge- 
nius wieder ein seltener Gast auf Erden. Und 
von nun an sank mit dem sinkenden Kultur- 
niveau des Landes auch das Frauenideal 
der Italiener, und sank immer tiefer bis auf 
ein fast orientalisches Niveau herab, das sich 
erst in unseren Tagen, jetzt aber mit reißen- 
der Schnelligkeit, wieder zu heben beginnt. 

DIE FRAU IN DER KÜCHE. Alle Ge- 
biete hat der Germane der Frau verschlossen, 

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mit Ausnahme des einen, wohin sie nicht 
paßt, der Küche. Zu allem möglichen hat 
die Frau Geschick: zum Wundennähen, zum 
Prozesseführen, die Geschichte sagt sogar: 
zum Staatenregieren, nur zum Kochen hat 
sie, in der Gesamtheit genommen, keins. Wie 
schmackhaft ist der Tisch bei Franzosen und 
Italienern bestellt, wo Männer die Küche 
regieren. Auch bei den Griechen und Römern 
war es so. Das Mahl als Kunstwerk wird nur 
vom Manne begriffen. Der Mann ist ein 
inspirierter, ein genialer Koch, Ehre, wem 
Ehre gebührt, er dichtet mit dem Koch- 
löffel. — Wer je das Vergnügen gehabt hat, 
von einem kulinarisch gebildeten Jungge- 
sellen zu einer Mahlzeit geladen zu werden, 
die er selbst gekocht hat, der wird in meine 
Bewunderung einstimmen. — Seine geistige 
Helligkeit bleibt dem Manne am Herdfeuer 
ungetrübt, und seine Mühe ist gleich Null: 
er kann neben dem Kochen ein Bild malen 
oder eine Wahlrede einstudieren. Das weib- 
liche Geschlecht ist in der Küche niemals 
produktiv gewesen, es kocht talentlos weiter 
nach vererbten Rezepten, und das ist noch 

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ein Glück, denn wenn es improvisieren will, 
so pfuscht es meistens. 

Aber was schlimmer ist: die Frau ver- 
dummt am Herdfeuer. Diese Weisheit ist 
nicht auf meinem Grund und Boden ge- 
wachsen, ich verdanke sie einem alten See- 
fahrer und Weltweisen, der mir viele Sommer 
hindurch im Golf von Spezia die Küche 
bestellt und manches tiefsinnige Wort dazu 
geredet hat. Er war einer der klügsten Men- 
schen und der besten Köche in einem Land, 
wo alle Menschen klug und alle Köche gut 
sind. 

„Warum kochen denn bei euch die Män- 
ner?“ fragte ich ihn eines Tages, da ich in 
jenem Lande noch ein Neuling war. 

Er sah mich an, wie wenn ich gefragt 
hätte: „Warum ziehen denn bei euch die 
Männer in den Krieg?“ 

Dann sagte er einfach: „Das Herdfeuer 
ist zu heiß für die Frauen, es schadet ihrem 
Kopf, es macht sie blöde und zänkisch.“ 

Da ging mir mit einem Male ein helles 
Licht auf : das Herdfeuer ist’s, was die 

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KJi 









deutsche Frau heruntergebracht hat. Und um 
sich für die widerfahrene Unbill zu rächen, 
kocht sie so langweilig, daß jeder feinere 
Appetit schon vom Ansehen der Schüsseln 
vergeht. 



DIE FRAU IM HAUSE. Die Frauen 
sollten nicht klagen, daß ihre häusliche Be- 
schäftigung zu niedrig sei, sie sollten Gott 
danken, daß sie nicht, wie die Männer, in 
Gefahr sind, von lauter Abstraktionen ver- 
schlungen zu werden. Wie freudelos ist das 
Tun des Beamten, der seine Bureaustunden 
absitzt, des Kaufmanns, der Zahlen an Zahlen 
reiht, gegen das ihre. Greift eine Hausfrau 
nicht hinein ins volle, strotzende Leben, 
wenn sie einen Sack mit Mehl öffnet? Ein 
Zuckerhut, ein Krug öl, ein Korb voll Äpfel 
oder Nüsse, sind das nicht natürliche Gegen- 
stände, deren Berührung ein sinnlicher, 
das heißt ein poetischer Genuß ist? Was 
gibt es Erquicklicheres, als einen Ballen 
schöner, starkkörniger Leinwand? Der Duft, 
den sie ausströmt, ist den Nerven wohltuend, 



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wie ein Bad, er erinnert noch an das wogende 
Feld, wo die blaue Leinblume blühte. Im 
Rohstoff ist noch die frische, sinnliche Wirk- 
lichkeit, während sonst ringsum im Leben 
alles schon verarbeitet und verbraucht ist. 
Sind darum nicht auch die Frauen der Natur 
näher geblieben und fähiger, ihr Lallen zu 
verstehen? Nur das laute, aufdringliche Ge- 
rassel müßte man der häuslichen Maschine 
abgewöhnen, denn das allein ist es, was die 
Frau im Hause erniedrigt. 




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AUS DER 
WELT DES 
| HERZENS | 



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Wir verlieren nicht, worauf wir freiwillig, 
wenn auch mit Schmerz, verzichten. Nur, 
was uns gewaltsam genommen wird, oder 
was wir nie besessen haben, das verlieren 
wir täglich aufs neue. 

Freiwilliger Verzicht ist vielleicht die 
schönste und dauerndste Form des Besitzes. 

Es gibt keine Täuschungen des Herzens. 
Was das Gefühl uns sagt, ist alles wahr, 
wenn auch mitunter nur für einen Augenblick. 

An der schnellen Bereitschaft zur Gegen- 
liebe erkennt man die kleinen Naturen. 

Ich liebe, was mich liebt, sagt der kleine 
Mensch. 

Ich nicht, ich liebe nur, was liebens- 
wert ist, sagt der große. 

Ich auch, entgegnet eifrig der kleine. 
Aber was mich liebt, das ist doch liebens- 
wert. 

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Die Liebe wie die Kunst idealisiert ihren 
Gegenstand, das heißt : sie erkennt sein 
wahres Wesen, entkleidet von allen Zufällig- 
keiten, und umfaßt auf einmal als ein 
Ganzes, was sonst im Leben nur stückweise 
und verschleiert zur Erscheinung kommt. 
Menschen, die wir lieben und verehren, haben 
für uns keine Jugend und kein Alter, sondern 
nur ihr unwandelbares, in Klarheit gesehenes 
Ich. 

Ja, selbst auf die äußere Erscheinung 
erstreckt sich diese Macht. Es kann Vor- 
kommen, daß ein bedeutender Mensch, der 
uns leiblich schon als Ruine entgegentritt 
und dessen Jugendbildnis wir gar nicht ge- 
kannt haben, plötzlich durch ein Wort, eine 
Geste, ein Aufleuchten seines Genius die 
schon vom Alter berührte Hülle abwirft 
und in Jugendgestalt vor uns steht, wie die 
olympischen Götter. 






Eins der merkwürdigsten Hölderlinschen 
Gedichte aus der Zeit seines Irrsinns schließt 




ganz unerwartet mit den prosaischen, aber 
seltsam ergreifenden Worten: 

So muß übervorteilt, 

Albern doch überall sein die Liebe. 

Welche Wahrheit in diesem Satz. Der 
Dichter, der auch im Wahnsinn ein Seher 
blieb, hat damit der Liebe für alle Zeit ein 
sicheres Kennzeichen angeheftet: wo sie 

nicht albern ist und sich übervorteilen läßt, 
da ist die Liebe auch keine Liebe. 

Es gibt keine Form, unter der heutzutage 
ein Mensch dauernd in den Besitz eines 
anderen übergehen könnte, auch nicht die 
eine, noch übrige Form der Leibeigenschaft, 
die man Ehe nennt. Einzig die Liebe kann 
das Ich verschenken, aber auch ihre Schen- 
kung muß Tag für Tag wiederholt werden, 
damit sie gültig bleibt. 

Wenn man in der Freundschaft eine 
schwere Enttäuschung erlebt hat, so geht 
noch eine Zeitlang das frühere Bild, das 

81 6 



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man von dem Freunde hatte, das wertge- 
haltene, bewunderte, neben dem neuen, dem 
fremd oder feindlich gewordenen her. Es 
existieren dann zu unser eigenen Verwunde- 
rung für uns zwei Menschen, zwei ganz ver- 
schiedene, die denselben Namen tragen, bis 
das Bild des ersten, das sich nicht mehr 
auffrischen kann, blasser und blasser wird 
und endlich ganz vor dem zweiten ver- 
schwindet. 

W 

Jede echte Freundschaft ist eine grüne, 
abgeschlossene, tief versteckte Laube, voll 
von Vogelgesang und Gaisblattduft, in der nur 
zwei Menschen Raum haben und die doch 
die ganze Erde umschließt. Verlieren wir 
den Freund, so verschwindet das zauberhafte 
Laubversteck mit all seinen Heimlichkeiten 
auf immer. Wir können vielleicht an einem 
anderen Ort eine neue Laube mit neuen 
Heimlichkeiten und Wundem bauen, aber 
die des ersten werden wir niemals Wieder- 
sehen, denn mit jeder Freundschaft stirbt 
zugleich eine ganze Welt. 

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Jedes Individuum ist wie ein Himmels- 
körper in seine eigene Atmosphäre einge- 
hüllt, der ein anderer, und wäre er der ge- 
liebteste Mensch, sich hüten muß, allzu nahe 
zu kommen, weil sonst unausbleiblich eine 
Abstoßung mit Störungen und Katastrophen 
aller Art entsteht. Aller Takt der Freund- 
schaft und der Liebe gehe darauf aus, die 
richtige Distanz innezuhalten, um die Atmo- 
sphäre des andern nicht zu beunruhigen. 

OPTIK DER LIEBE. Alle Liebe, Be- 
wunderung, Verehrung steht unter optischem 
Gesetz. Es bedarf einer Perspektive, nicht 
tim die Täuschung zu erhalten, wie die Pessi- 
misten meinen, sondern um richtig zu sehen. 

Rückt man einander zu nahe auf den Leib, 
/ 

so sieht keins mehr das Bild des andern, 
es sieht nur noch Einzelheiten, die stören 
und erdrücken. 

Zuweilen bezaubern uns Menschen durch 
Eigentümlichkeiten, die nur auf eine ganz 
bestimmte Entfernung wirksam sind. Wir 

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treten um einen Schritt näher, und der Glanz 
läßt nach, wir fahren weit zurück, und nun 
sehen wir ihn gar nicht mehr. In solchen 
Fällen klagen wir über Täuschung. Ver- 
suchen wir doch lieber, auf den alten Stand- 
punkt zurückzutreten und uns von neuem an 
dem Farbenspiel zu ergötzen, statt wie Kin- 
der fassen zu wollen, was gar nicht greif- 
bar ist. 

Je mehr die Menschheit sich entwickelt, 
desto weniger wird man es für möglich 
halten, daß zwei Personen, die an Geschlecht, 
an Abstammung und Jahren, an Anlagen 
und Erfahrungen verschieden sind, in eine 
Person verschmelzen können. Vieles Elend 
wird aufhören, wenn man einmal in der 
Ehe suchen wird, sich nicht mit, sondern 
neben einander einzurichten. Dazu bedarf 
es aber einer höheren Sittlichkeit, als der 
heutige Mensch mit seiner brutalen Aneig- 
nungslust erschwingen kann. 

« 

84 



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Nichts Roheres, als wenn der Liebende 
das geliebte Wesen ein für alle Mal seinem 
Besitzstand einverleibt und, um sicher zu 
schlafen, die Moral zur Hüterin seines 
Eigentums erklärt. Die Dauer der Liebe hat 
mit dem Willen nichts zu tun, folglich kann 
er auch nicht für sie Bürge sein, und noch 
weniger kann irgend eine äußere Macht den 
Kontrakt der beiden Herzen unterschreiben. 




SS 



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SS 



Jedes Kind ist wieder der erste Mensch 
und lebt allein auf einer noch unbewohnten 
Erde. Darum bringt der Übergang in den 
Erwachsenen oft schmerzliches Leiden. Es 
kann für ein heranwachsendes Kind eine ge- 
radezu fürchterliche Aufgabe sein, mit einem 
elterlichen Auftrag in ein fremdes Haus zu 
gehen. Die Menschenscheu der Übergangs- 
zeit ist eine langwierige Krankheit, bis aus 
dem in sich selbst geschlossenen Ich des 
Kindes der Gesellschaftsmensch, die Num- 
mer wird. 

Denn das Kind ist ganz Individuum. Erst 
durch das Geschlecht gehört der Mensch zur 
Gattung. 

Auch das Gesicht drückt diese Verände- 
rung aus, am meisten bei den Mädchen. Die 
Geschlechtsreife bringt eine Annäherung an 
das Allgemeine, an einen ästhetischen Ideal- 
typus hervor. Später, wenn der Reiz schwin- 
det, tritt oft das individuelle Kindergesicht 
wieder heraus. 

W 

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iS 



Die erste Krisis beim Kinde ist, wenn 
es „Ich“ sagt, die zweite, wenn es „Sie“ 
sagt. Es ist wie das zweimalige Zahnen, 
mit dem es ja auch zeitlich zusammenfällt. 

) 

Wie anschaulich sich im Kinde die An- 
fänge der Menschheit wiederholen! Wenn 
das Kind seine künstliche Puppe in Stücke 
schlägt, um den Mechanismus in ihrem 
Inneren zu sehen, so ist das nur die erste 
Regung jener Neugier, aus der beim Er- 
wachsenen die wissenschaftliche Forschung 
fließt. Wenn es sich mit seligem Gesicht 
in sein umgekehrtes Stühlchen setzt, das ihm 
einen Wagen vorstellt, und einen Schemel 
vorspannt, der das Pferd bedeutet, so ist 
damit der Anfang der Kunst gegeben, die in 
dem angeborenen Spieltrieb der Menschheit 
ihren Ursprung hat. 



¥9 

Das Kind ist glücklicher mit einem 
solchen selbstgeschaffenen Wägelchen, als 
mit den künstlichsten Spielsachen, die ihm 

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der Verstand der Erwachsenen fertigen kann, 
denn eben dieses Schaffen, dieses Um- 
dichten, das ist sein Glück. Wenn ihm die 
Mutter den zusammengewickelten Zeuglap- 
pen, den es auf dem Arme hätschelt, weg- 
nimmt, um ein Pariser b6b6 incassable dafür 
hineinzulegen, so weint das Kind, denn 
die Phantasie ist in ihm beleidigt worden 
durch die rohe Realität, die sie überbieten 
will und deren Unwert vom Kinde dunkel 
geahnt wird. 



Von Kindern aus dem Proletariate geht 
häufig eine mit tiefem Bedauern gemischte 
Abstoßung aus, weil sie das Äußere von 
Kindern haben und dennoch keine Kinder 
sind. Sie leben nicht in der Welt der An- 
schauung, sondern gehen schon mit prakti- 
schen äußeren Zwecken um. Die Not hat 
ihnen bereits den Blick für alles Reale ge- 
schärft; ihr Auge glänzt nicht mehr vom 
Widerschein des Paradieses. Deshalb schrei- 
ben wir ihnen auch ohne weiteres mehr 
praktische Einsicht und Verantwortlichkeit 



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zu, als den Kindern höherer Stände, die sich 
noch den Luxus gestatten dürfen, weltfremde 
Himmelsbürger zu sein. 

Diesem Stand der Kindheit bleibt der 
geniale Mensch sein Leben lang nahe. Es 
ist ein Zeichen von Gemeinheit, sich früh 
in dem, was man „die Welt“ nennt, zurecht 
zu finden. 






Wenn wir blieben, was wir in den Jahren 
vor der Geschlechtsreife waren ! Damals 
lebten wir unmittelbar im Anschauen der 
Gottheit. 

Jeder erlebt in sich den Sturz aus dem 
Paradiese, wenn er sich seines Geschlechtes 
bewußt wird. Wie wahr ist die Mythe vom 
verlorenen Unschuldsstand und dem ver- 
lorenen Eden. Sie verlegt nur, wie es alle 
Mythen tun, das, was sich täglich wiederholt, 
in den Anfang der Zeiten. Der Unschulds- 
stand ist das Leben in der Vorstellung. War- 
um sind Kinderaugen so rein und leuchtend 

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wie die des Dichters, als weil sich nur die 
ewigen Dinge in ihnen spiegeln? Der Er- 
wachsene, der diese Unschuld in sich wieder- 
herstellen kann, vielleicht von Millionen ein 
einziger, der hat die ewige Jugend. 

Der antike Mensch blieb der Kindheit 
näher, weil ihn am Eingang ins reife Leben 
kein Verbot erwartete, um ihn in tausend- 
fältigen Zwiespalt zu stürzen. Denn nicht 
der Biß in den Apfel war es, der unsere 
Voreltern vom Paradies getrieben hat, son- 
dern die Existenz des verbotenen Baumes 
und das Reifen seiner Früchte. 

Auch im günstigsten Falle können wir 
als Erwachsene nicht mehr die abgerundeten, 
in sich geschlossenen Wesen bleiben, die 
wir als Kinder waren. Verhältnisse zwingen 
uns auf Wege, die wir nie gesucht hätten, 
oder bannen uns in einer Umgebung fest, die 
uns nicht entspricht. Unsere Welt können 
wir uns nicht mehr nach unserem Bedürfnis 

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aufbauen, wenigstens sind wir genötigt, viele 
Bausteine mit zu verwenden, die uns von 
außen aufgedrungen sind. Wir müssen lernen 
Kompromisse schließen, unser Naturell ver- 
leugnen, und das Beste in uns kommt viel- 
leicht nie zum Wort. Dieses zerstückelte, un- 
vollendete, zusammengeflickte Ding heißt 
dann ein Menschenleben. Wehe dem, der 
nicht schon bei lebendigem Leib sein selbst- 
geschaffenes Jenseits hat, wo er die bessere 
Hälfte seines Daseins zubringt, wo wieder, 
wie in der seligen Kindheit, alles Unfertige 
ergänzt, das „Unzulängliche“ „Ereignis“ wird. 

M^an soll nur nicht glauben, daß die 
äußeren Zeichen der Mitteilung eine gemein- 
verständliche Sprache seien. Wie viele Kon- 
flikte zwischen Eltern und Kindern entstehen 
nur dadurch, daß der Aufgeregte die Ver- 
schlossenheit des anderen für Stumpfsinn 
hält, und der Verschlossene umgekehrt jede 
leidenschaftliche Äußerung für vollwertige 
Münze nimmt. Der eine sagt sich: Wie muß 
es im Innern stürmen, bis man dahin kommt, 

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m 



sich so gehen zu lassen! — während der 
andere denkt: Wie kalt muß man sein, um so 
gelassen zu bleiben. — Verschlossene Kin- 
der, die von den Großen mißverstanden 
werden, setzen gewöhnlich ihre ganze Kraft 
darein, den Gegensatz zu verschärfen, sich 
niemals zu äußern; je mehr sie bedrängt 
werden, desto fester krampft sich ihr 
Inneres zu. 

Die Kindheit ist ein beständiger Kampf 
ums Ich, um die' Individualität, die von den 
Erwachsenen oft mit der unverständigsten 
Grausamkeit verfolgt wird. Was ist indivi- 
dueller, als die Art, seine inneren Zustände 
zu äußern? Dasselbe Wort hat ja bei ver- 
schiedenen Naturen grundverschiedene Be- 
deutung, und die lauteste Form ist nicht 
immer die inhaltvollste. Aber wer selbst ge- 
wohnt ist, bei jedem Anlaß in leidenschaft- 
liche Worte und Gesten auszubrechen, der 
versteht das Verstummen nicht, das für eine 
verschlossene Natur sehr beredt sein kann. 
Wenn ich ein Kind sehe, das bei starken 
Anlagen nie eine Empfindung äußert, so 
denke ich: Hier fehlt das Sicherheitsventil, 

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man darf nicht zu stark heizen. Verrannte 
Eltern heizen aber immer noch stärker, und 
so entstehen jene Kindertragödien, an denen 
die Erwachsenen meist so ganz fühllos vor- 
übergehen. 

In der Sprache der Erzieher spielt Gut 
und Böse eine große Rolle, aber gewöhnlich 
verstehen sie darunter, was ihnen bequem 
oder unbequem ist. Meistens ist die soge- 
nannte Erziehung nur ein Krieg der Starken 
gegen die Schwachen. In diesen ungleichen 
Kämpfen sind fast jedem von uns ein paar 
Rippen krumm geschlagen worden, die nie 
wieder gerade wuchsen. 

Ja, wenn ihr Erzieher selber reife Men- 
schen wäret und weitsichtige Weise dazu. 
Aber im Alter, wo ihr zu diesem Amt be- 
rufen werdet, seid ihr meistens mit euch 
selber noch nicht fertig. Ihr werdet viel- 
leicht später einmal fähig, eure Enkel zu 
erziehen, nachdem eure Kinder das Lehrgeld 
gezahlt haben. 

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Weil die beiden natürlichen Erzieher des 
Kindes meistens zwei ganz verschiedene Na- 
turen sind, so erkennt jedes im Kinde nur 
die Züge, die von ihm selber stammen. Nun 
hat bei der Erziehung fast immer der eine 
oder der andere Teil die Oberhand, und so 
kann es kommen, daß der beste Vater acht- 
los dabeisteht, wenn von einer liebevollen, 
aber nicht verstehenden Mutter seine eigene 
Welt im Kinde mißhandelt wird oder um- 
gekehrt. Gar für die Eigenschaften, die es 
mit keinem der beiden Eltern gemein hat, 
findet es auch auf keiner Seite ein Verständ- 
nis, und so geht ein tragischer Zug fast 
durch jedes Kinderleben. 

Eltern sollten sich nicht unberufen in 
das Gefühlsleben ihrer Kinder eindrängen; 
das keusche, vornehme Verschließen des 
Inneren gehört zum besten, was sie haben. 
Wenn diese Blüte entweiht wird, so gibt es 
eine Demütigung, die den ganzen Charakter 
schwächen kann. Sie dürfen nicht glauben, 
daß die Kinder Wesen seien, die ihnen ge- 

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hören, eine Verlängerung ihres Ichs; sie sind 
ihr eigenes Eigentum, die Welt fängt bei 
ihnen von vornen an. Wie sie nicht einge- 
zwängt werden sollen in die kleinen Kreise 
der Eltern, so soll man sie auch in keine 
Ausnahmebahnen drängen. Wollet sie nicht 
zu Aposteln eurer Ideen erziehen, wenn sie 
keinen Drang zum Apostolate zeigen. Glaubet 
nicht, daß ihr in ihnen eure Ideale verwirk- 
lichen dürft; zu diesem Experiment hattet 
ihr euch selbst, die Kinder laßt ihren eigenen 
Sternen. Wohl sind sie Fleisch von eurem 
Fleisch, aber wie ihr beide unter einander 
grundverschiedene Wesen seid, so sind sie’s 
von euch. Und die Zeit, in der sie leben 
werden, hat andere Schlachten zu schlagen, 
als die, in denen ihr mitgekämpft habt. 




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ETHIK UND 
| RHYTHMUS J 



Einst wird es kommen, dass auf Erden 
Sich höhere Geschlechter freu’n, 

Und heitre Angesichter werden 
Des Ewig-schönen Spiegel sein. 

Moericke. 



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Alle Ethik der Zukunft wird sich mit der 
physischen Veredlung der menschlichen 
Rasse zu beschäftigen haben. Die Griechen 
als die ersten aller Lebenskünstler gaben viel 
weniger auf Erziehung als auf Züchtung. 
Solon verbot die Mitgiften, um eine herr- 
liche Rasse zu erzielen. Dieser Maß- 
regel allein, durch Jahrhunderte festge- 
halten, verdankt vielleicht Athen die Wun- 
derblüte seiner Kultur und ihre innere 
Dauerhaftigkeit, durch die sie noch bis in 
unsere Tage herüberleuchtet. Als die Kor- 
ruption in Athen einbrach und die Geld- 
heiraten in Schwang kamen, war der von 
Solon geschaffene Typus schon so stark, 
daß seine Anlagen noch mehrere Jahr- 
hunderte lang der Entartung Widerstand 
leisteten und fortfuhren, unvergängliche 
Werke zu schaffen, bevor er ganz ver- 
schwand. Kann jemals ein solcher Typus, 
in dem das Ideal der Menschheit Fleisch 
und Blut geworden ist, aufs neue zur Wirk- 
lichkeit werden, außer in vereinzelten In- 
dividuen ? 

ioi 



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Die engherzige Moral der Heutigen reicht 
nicht über die Grenze des Einzeldaseins hin- 
aus, während der Grieche eine Ethik des 
ganzen Stammes hatte. Es ist Ethik im aller- 
höchsten Sinne, wenn ein griechischer Dich- 
ter den Paris auf dem Ida bei seiner ver- 
hängnisvollen Wahl durch die Erwägung 
geleitet werden läßt, daß eine herrliche Braut 
ein herrliches künftiges Geschlecht verbürge, 
während die Verheißungen der Pallas und 
der Here nur seiner eigenen Person zu gute 
kämen. Freilich, etwas von dieser ethischen 
Macht spüren wir auch heute noch; unser 
ganzes Interesse an Liebesromanen ent- 
springt aus der (nicht ins Bewußtsein treten- 
den) Empfindung, daß ein höherer, im In- 
stinkte wirkender Naturzweck mit den niedri- 
gen gesellschaftlichen Zwecken zusammen- 
geprallt ist — an sich könnte es uns sehr 
gleichgültig sein, ob der Hans die Grete 
oder die Liese bekommt. Aber nur der 
Grieche hat die Erzeugung einer edlen Nach- 
kommenschaft als bewußte ethische Forde- 
rung formuliert. 

Ein Mensch von edlen Rasseanlagen 
102 



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müßte aus Instinkt die höchsten Opfer 
bringen, um diese Anlagen unverfälscht 
weiter zu verereben und das Edle durch das 
Edle zu multiplizieren; er müßte lieber 
seinen Stamm erlöschen sehen, als ihn mit 
gemeinen Anlagen kreuzen und verderben. Es 
war ein Mißverstehen dieses Prinzips, woraus 
die Adelsvorurteile entsprungen sind. Aber 
ist es nicht ein Rest vom Idealismus der 
Menschheit, der mit dem Unsinn dieser Vor- 
urteile abstirbt ? 

Die moderne Gesetzgebung baut Kran- 
ken- und Irrenhäuser; sie nimmt Anstalten 
für Tuberkulöse, für jugendliche Verbrecher, 
für Krüppel und Trunkenbolde unter ihren 
Schutz. Lauter nutzlose therapeutische Ver- 
suche, wo Macht und Mut zur Prophylaxe 
fehlen. Ein veredelter Sozialismus wäre wohl 
einmal berufen, dem Übel wie Solon die 
Axt an die Wurzel zu legen. Man hebe nur 
erst Erbrecht und Mitgift auf, daß das Geld 
als Kuppler zwischen Mann und Weib keine 
Rolle mehr spielen kann, so werden beide 
Teile sofort wenigstens den körperlich 
ebenbürtigen Genossen suchen, und eine Ge- 

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S® 



sundung des Normaltypus schon in der näch- 
sten Generation wird die sichere Folge sein. 
Nach einigen Generationen aber werden 
wieder adlige Geschlechter über die Erde 
wandeln, während es jetzt im besten Falle 
nur adlige Individuen gibt. Bei dem so ge- 
wonnenen Typus wird die Erziehung wenig 
Mühe haben. Denn edle Rasseanlagen, durch 
musische und gymnastische Ausbildung ge- 
hoben, enthalten den Keim jeder ethischen 
Entwicklung als etwas Natürliches und Un- 
vertilgbares in sich, und dieser Keim wächst 
ganz von selber, wenn ihm der rechte Boden 
bereitet ist. 

Über wie viele Schlachtfelder mag der 
Weg zur Erfüllung dieses obersten Kultur- 
zwecks die Menschheit führen! Aber sollten 
auch zwei Drittel aller Lebenden dabei ver- 
tilgt werden, ja und müßten selbst die 
Wunderwerke einer alten, heiligen Kultur 
bei dem Weltbrand vollends in Stücke gehen, 
der Preis wäre nicht zu teuer, denn eine 
solche neugeborene Menschheit könnte neue 
Wunderwerke schaffen. 

Und was sind alle Wunder der Kunst 



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SS 









neben dem höchsten Wunderwerk, dem voll- 
endeten Menschen selbst! 



Im Altertum pflegte man die schwächlich 
Geborenen auszusetzen. Unsere moderne 
philanthropische Gesellschaft behütet gerade 
diese wie ihren kostbarsten Schatz und baut 
sogar Brutkästen für Siebenmonatkinder. 
Aber den unehelich gezeugten, den einzigen, 
von denen man mit einiger Wahrscheinlich- 
keit annehmen kann, daß sie gesunde 
Resultate einer natürlichen Wahl, also 
die wahrhaft „Wohlgeborenen“ sind, gönnt 
sie keinen Platz, sie zeichnet sie mit einem 
Schandmal, übergibt sie wohl gar den „Engel- 
macherinnen“. Sie zieht das Schwächliche 
und Unfähige mit Opfern auf und räumt 
das Starke, Gesunde aus dem Wege. Wir 
schlagen über die Grausamkeit der Alten die 
Hände über dem Kopf zusammen, aber was 
wird ein späteres Jahrhundert von der 
Philanthropie des unsrigen sagen? 



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MS 



MUSIK UND ETHIK. Alles Gute ist 
nur Harmonie, Rhythmus, Einstimmen und 
Takthalten mit der Musik des Weltganzen. 
Kleinlich-egoistische, boshafte Zwecke sind 
ein Ausdemtaktfallen, das sich gleich mit 
eigener innerer Disharmonie und Unlust be- 
straft. Später kommt auch die Strafe von 
außen hinzu, denn die gestörte Harmonie 
stellt sich über den Friedensstörer weg wieder 
her. Nicht in gute und schlechte, sondern 
in musikalische und unmusikalische müßte 
man die Menschen einteilen. 

Die Griechen, denen Musik und Reigen- 
tanz die Kultformen waren, unter denen sie 
der Gottheit dienten, hatten geradezu den 
Rhythmus für das ethische Gesetz erkannt, 
das den Menschen zum Menschen bindet. 
Aus dem Niedergang der Musik prophezeiten 
sie — nicht mit Unrecht — den Niedergang 
der ganzen Rasse. 



Tanzen auch ist Gottesdienst, 

Ist ein Beten mit den Beinen. 

Dieses frivole Wort Heines, bei den 

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Griechen ist es einmal reinste, frömmste 
Wahrheit gewesen. Man verbanne nur unsere 
abgeschmackten Rundtänze aus seiner Vor- 
stellung, wenn man das Wort „Tanzen“ hört. 
Jeder Tanz, vom feierlichen Chorschritt zum 
wildesten bakchischen Rasen, entsprang dem 
Griechen aus einem religiösen Drang, war 
ein Versuch der Annäherung an die Gott- 
heit. Ein Einfühlen der Seele in die Har- 
monie des Ganzen, Anpassung der Glieder 
an den Schwung und Rhythmus aller Dinge, 
Gefühl göttlichen Gehobenseins in jeder Be- 
wegung, liebendes Hinstreben zu den Mit- 
geschöpfen, sicheres Ruhen auf dem eigenen 
Schwerpunkt. 

Man spricht jetzt wieder so viel von Re- 
ligion, ohne bei dem zugestandenen Nieder- 
gang des Dogmas recht zu sagen, was man 
eigentlich darunter versteht. Soll es im weite- 
sten Sinne die Verehrung einer unsichtbaren 
Macht und Ordnung sein, dann würde ich mit 
Hölderlin sagen: „Seid nur fromm, wie der 
Grieche war.“ Nehmt zu Musik und Poesie 
auch die dritte der Schwesterkünste, den 
Tanz, den schön ausgebildeten, wieder unter 

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die Kultformen auf und dient dem Unsicht- 
baren „mit Herz und Leib, mit Hand und 
Fuß“ einfältig, wie der „Tänzer unserer lieben 
Frau“. Das Ausströmen der Seele im Rhyth- 
mus wird sie besser reinigen, als Bußtage 
und Fasten, es kann eine wirkliche Erziehung 
zu ethischer Kultur werden. Ja, ich glaube 
fest, daß der Mensch im Augenblick, wo sein 
Körper sich am Bande einer herrlichen Musik 
wie an einer goldenen Kette schwingt, keines 
niedrigen oder verbrecherischen Gedankens 
fähig ist. 

DURCH RHYTHMUS ZUM RHYTH- 
MUS. Die Musik, die transzendentale Kunst, 
bringt von jenseits der Dinge die große Heils- 
botschaft einer ewigen Ordnung und durch- 
flutet damit unsere innere Welt. Die Poesie 
dehnt diesen Rhythmus auf das Menschen- 
leben aus und verdolmetscht ihn durch ihre 
Bilder der irdischen Geschicke in einer 
Sprache, die wiederum Rhythmus ist. Die 
bildenden Künste verbreiten ihn durch Form 
und Farbe über alle sichtbaren, vom Men- 
schen geschaffenen Dinge und schließen 

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damit den Ring, denn die Naturgebilde haben 
von selber den Rhythmus in sich. 

Alle Künste haben unbewußt ein ethi- 
sches Ziel, bis zur harmonischen Bemalung 
eines Topfes herunter: sie wollen das rhyth- 
mische Gefühl stärken, durch das der ge- 
heimnisvolle kosmische Zusammenhang der 
Dinge zu uns spricht. Ethische und ästheti- 
sche Werte sind in ihrem allerinnersten 
Wesen eins, und auch die Religion ist nur 
ein anderes Wort für dieselbe Sache. Man 
lehre den Rhythmus der sichtbaren Dinge 
durchs Auge und den der unsichtbaren 
durchs Ohr, und man wird die junge Seele 
für die Forderungen des Sittengesetzes besser 
empfänglich machen, als durch das nüchterne 
„Du sollst“ einer abstrakten Moral. Die ein- 
zelnen Dissonanzen wird man damit nicht 
aufheben, wohl aber kann man eine allge- 
meine Empfindung vom Einklingen des 
Menschenlebens in den Gang des Welt- 
ganzen erwecken, und damit das Dasein zu 
höherer Sicherheit und Freudigkeit empor- 
tragen. 

zog 



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SS 






Eine Ahnung vom Wert der Künste als 
Erziehungsmittel dämmert heute doch der 
Welt. Man lehrt in den Schulen die Anfangs- 
gründe der Musik, man sucht durch den An- 
schauungsunterricht das stumpf gewordene 
Auge für den Rhythmus der Formen wieder 
empfänglich zu machen. Warum ist die 
Dichtkunst das Stiefkind unserer Kultur ge- 
worden? Wer hat heute noch ein Ohr für 
den Wohllaut der Poesie? Der Durch- 
schnittsgebildete hört vom Rhythmus eines 
Gedichts so viel, wie von der Harmonie 
der Sphären. Es ist nicht immer so gewesen. 
Gar nicht zu reden von der über alle Vor- 
stellung gehenden Feinhörigkeit der Griechen 
— auch die Lieder der nordischen Völker, 
zum Beispiel die alten Balladen der Dänen 
und Schweden, setzten ein viel feineres Ohr 
voraus, als man von irgend einem heutigen 
größeren Publikum erwarten darf. Das macht: 
jene Völker hatten noch Zeit, auf die Stim- 
men der Natur zu lauschen, die die große 
Lehrmeisterin des Rhythmus ist. 

Auch diese verlorene Gabe kann der 
Menschheit zurückgewonnen werden, durch 



zio 



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Unterweisung in der Jugend, wo die Tage 
noch lang und die Sinne anpassungsfähig 
sind. 

Von der Stärke unseres inneren rhyth- 
mischen Gefühls, das heißt von der Ahnung 
unseres unzerstörbaren kosmischen Zusam- 
menhangs hängt die Grundstimmung unseres 
Wesens ab. Bei einzelnen bevorzugten In- 
dividuen ist die aus dieser Ahnung stam- 
mende freudige Sicherheit so groß, daß sie 
aus jeder ihrer Mienen und Gesten spricht 
und sich auf magische Weise der ganzen 
Umgebung mitteilt. Der Unmut klärt sich 
vor ihnen auf, die Schwachheit stützt sich 
auf sie, in bedrängten Lagen scheint ihre 
Gegenwart eine Bürgschaft, daß sich alles 
zum Guten wenden müsse, bei unwiderruf- 
lichem Unglück besänftigt sie die Heftig- 
keit der Schmerzen, indem sie über die augen- 
blickliche Zerrüttung weg das Gefühl der 
ewigen Ordnung wieder lebendig macht. 

Die Wirkung dieser Naturen ist meta- 
physischer Art, wie die der Musik; sie ist 

iii 



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5ffi 



eine unwillkürliche, denn sie hängt keines- 
wegs mit irgend einer Macht oder auch nur 
Absicht, zu helfen und zu trösten, zusammen. 
Wir fragen auch gar nicht, woher sie stammt, 
wir wissen nur, sie ist, und verehren dankbar 
ihre Gegenwart. 



Dieses rhythmische Gefühl ist die einzige 
Form des Glückes, die es für den Sterblichen 
gibt. Und weil die Kunst danach strebt, den 
Rhythmus zu verbreiten, deshalb ist sie die 
große Weltbeglückerin, ja sie ist gleichbe- 
deutend mit dem Glücke selbst. 

KÖRPER UND SEELE. Menschen, die 
von Hause aus häßlich sind, aber ein har- 
monisches Gemüt haben, werden mit den 
Jahren schöner. Die Häßlichkeit, die in der 
Jugend als wilde, schreiende Dissonanz auf- 
tritt, läßt sich durch den inneren Rhythmus 
besänftigen, wo nicht in Anmut lösen. Musi- 
kalische und poetische Begabung können viel 
dazu beitragen, sie sind die eigentliche Kos- 

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metik der Seele, die auch nach außen zurück- 
wirkt. Die Züge gehorchen dem inneren 
musikalischen Gesetz, indem sie sich ge- 
fälliger zusammenstimmen. Wenn solche 
Menschen sich in der Liebeswahl nicht ver- 
greifen, so wird sogar ihre Nachkommen- 
schaft eine schöne sein: die innere Musik, 
in die der Rhythmus einer anderen Seele 
eingestimmt hat, tritt nun lauter und mäch- 
tiger nach außen und kann zur herrlichsten 
Symphonie werden. Denn die Natur will 
immer das Schöne schaffen; wo es ihr nicht 
gelingt, da hat sie die Dissonanzen nicht 
überwinden können. 

Umgekehrt werden schöne Gesichter, 
hinter denen boshafte, neidische, lieblose Ge- 
danken sich verbergen, mit der Zeit häßlich. 
Die inneren Dissonanzen rütteln das schöne 
Gebäude durcheinander. Seelen, die nicht 
einstimmen in die Harmonie der Dinge, die 
also im höheren Sinne unmusikalisch sind, 
können die Harmonie ihrer Züge nicht fest- 
halten. Denn Musik ist das Schönheitsgesetz 
selbst, in dem sich die ungeheure Ordnung 
und der Zusammenhang des Universums aus- 



SS 









spricht, der vom Ganzen aus alle Teile durch- 
strömt und das Kleinste zum Größten bindet. 
Auch sein Äußeres zu formen, steht in des 
Menschen Hand, denn er ist der Herr, der 
Macht und Freiheit hat zu allem. 

Jedes harmonische, höhergestimmte Le- 
ben schließt den Willen der Natur zur Ver- 
edlung des Leibes ein. Gymnastik ist eine 
herrliche Sache, um diesem Willen nach- 
zuhelfen, aber nur der Geist ist sicher, die 
überwuchernde Materie zurückzudrängen, 
und nur die Seele führt dem Körper stets 
frische Säfte zu, daß er nicht verdorren kann. 

Zuweilen begegnet man Menschen, die 
sich bis ins höhere Alter die saftreiche Frische 
und die Reinheit der Form bewahrt haben. 
Solche Gestalten sollen wir mit Ehrfurcht 
als etwas Göttliches betrachten, denn ihre 
Schönheit ist keine aus der Hand des Zu- 
falls gekommene, sie ist der Preis eines 
höheren Lebens. Sie müssen für uns sein, 
was den Griechen ihre Heroen waren, Mittel- 
glieder zwischen Menschen und Göttern. 

** 



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Man stößt sich oft daran, daß die griechi- 
schen Dichter sich so wenig mit den morali- 
schen Qualitäten ihrer Götter und Helden 
befassen, daß diese Idealbilder, um ein Wort 
Goethes zu gebrauchen, auf „verklärten phy- 
sischen Eigenschaften“ ruhen. 

Man vergißt dabei, daß dem Griechen 
Geist und Körper eins sind: verklärte phy- 
sische Eigenschaften sind jedem jugend- 
lichen Volke moralische Eigenschaften, wie 
viel mehr einem so künstlerisch angelegten, 
•wie den Griechen. „Schön und trefflich“ 
schmolz ihnen in ein Wort und in einen 
Begriff zusammen. Auch heute fühlen wir 
noch etwas von dieser Einheit durch. Die 
Gutmütigkeit des Starken ist bei allen Völ- 
kern sprichwörtlich, und den Italiener wenig- 
stens kann man mit der innigsten Überzeu- 
gung versichern hören, daß nur schöne 
Menschen gut seien. Wenn er von einem 
Menschen das Wort „bello“ mit dem tiefsten 
Nachdruck braucht, so fühlt man, daß die 
Vorstellung der seelischen Schönheit mit 
eingeschlossen ist. Anwidemde Häßlichkeit 
kann sich in Italien nicht zeigen, ohne der 






8 * 



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öffentlichen Rüge zu begegnen. Das ist 
freilich ein grausamer Zug, aber es liegt ihm 
kein falscher Instinkt zu Grunde. Denn 
da die Natur das Schöne will, so ist Ab- 
irrung in der Form eine Dissonanz, die auf 
eine, allerdings oft weit zurückliegende, mo- 
ralische Verfehlung — eine Art Erbsünde — 
deutet. 

Wenn die romanischen Völker vielleicht 
in dem naiven Rückschluß vom Äußeren auf 
das Innere zu weit gehen, so vertraut sich 
der Deutsche dagegen dem Instinkte viel 
zu wenig an. Es ist noch nicht lange her, 
daß man in Deutschland sogar geneigt war, 
schöne Menschen mit einem gewissen Arg- 
wohn zu betrachten, und daß körperliche 
Häßlichkeit und Unscheinbarkeit, plumpes, 
ungefälliges Wesen ein gewisses moralisches 
Übergewicht gaben. Einem Mädchen wurde 
verargt, wenn sie von ihrem künftigen Gatten, 
ein anziehendes Äußere verlangte, wofür man 
noch in den Familienromanen jener Zeit den 
Beweis finden kann, wie überhaupt die Lite- 

116 



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ratur der illustrierten Familienblätter und 
was dahin gehört, der beste Pegel für den 
jeweiligen deutschen Kulturstand ist. 

Der moderne Mensch ist allmählich da- 
hin gelangt, daß er Schönheit des Körpers 
kaum mehr wahrnimmt, so sehr ist er ihres 
Anblicks entwöhnt. Selbst die Künstler kann 
man mitunter auf einer großen Unsicherheit 
betreffen, was wahrhaft schöne Gliedmaßen 
sind, und gar der Laie hat in den seltensten 
Fällen ein Urteil. Für die herrliche Musik 
des menschlichen Leibes ist das natürliche 
Organ abhanden gekommen. Die Menschen 
glauben heutzutage, daß nur das Gesicht der 
Spiegel der Seele sei, während doch der- 
selbe Wille der Natur, der die Gesichtszüge 
formt, in allen Teilen des Leibes bis herab 
in die feinsten Muskelfasern und Hautgewebe 
tätig ist, und dieselbe Kraft des Geistes durch- 
weg die Ausgestaltung vollendet. Denn am 
menschlichen Körper arbeiten Geist und 
Natur zusammen; man würde ihn höher 
achten, wenn man sich das gegenwärtig 

117 



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hielte. Wer es nicht glaubt, vergleiche nur 
Knochenbau und Muskulatur eines völlig ge- 
sunden, völlig normalen Modells aus dem 
Volke mit dem Körper eines gleichfalls völlig 
' gesunden, völlig normalen und dabei durch 
Vererbung und eigene Anlagen veredelten 
Menschen höherer Stände. Es wird ihm Vor- 
kommen, als sähe er eine rohe Skizze neben 
einem ausgeführten Kunstwerk. Bei Hand 
und Fuß läßt man das gelten. Jedermann 
weiß, daß es einen aristokratischen Fuß gibt, 
(obwohl man darunter meistens den Stiefel 
versteht). Bei der Hand geht es sogar weiter : 
wer einigermaßen ein Auge hat, unterscheidet 
nicht nur die aristokratische von der plebeji- 
schen, sondern auch eine habgierige, zum 
Greifen und Festhalten geschaffene Hand 
von einer gütigen, freigebigen, eine apathi- 
sche, gleichgültige von einer lebendigen. Daß 
der Arm die Sprache fortsetzt, und daß sie 
sich, mehr oder minder ausdrucksvoll, über 
den ganzen Körper verbreitet, daran denkt 
man nicht. Wenn man daran dächte, wenn 
diese Sprache, die auch durch die Kleider 
hindurch vernehmbar ist und durch eine 

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naturgemäße Tracht noch vernehmbarer wer- 
den müßte, allgemein verstanden würde, so 
wäre die Menschheit um einen großen Genuß 
reicher und hätte einen mächtigen Antrieb 
mehr zur Selbstveredlung. 

Auch wir Germanen haben göttliche 
Künstler gehabt, Deutsche und Niederländer, 
doch von der Herrlichkeit des menschlichen 
Leibes haben sie uns nichts, aber auch gar 
nichts geoffenbart. 

r* 

Schönheit des Leibes ist dem modernen 
Menschen eine halb vergessene Sage. Immer- 
hin eine Sage ist sie doch! Aber was würde 
aus uns ohne die Griechen! 

ff 

„Immer die Griechen! Kannst du denn 
von nichts anderem reden?“ 

Es treibt mich, allen meinen Wohltätern 
zu danken. Den Griechen danke ich, wie 
bülig, am öftesten. 

** 

ng 



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SS 

Auf mancherlei Gebieten habe ich mich 
umgetan und vieles habe ich versucht. Aber 
wo ich glaubte, das Beste zu haben, bei 
den Griechen fand ich es immer noch besser. 
Das ist die Wahrheit — bis herab zum Schuh. 

Die Jugend ist entschuldigt, wenn sie 
sich durch das Scheinbild einer anmutigen 
oder pikanten Äußerlichkeit verführen läßt. 
Sie ist dabei gar nicht so „äußerlich“, wie 
es scheint, sie erliegt nur einem falschen 
Symbolismus, weil sie eine Äußerlichkeit gar 
zu buchstäblich für das Wahrzeichen eines 
inneren Vorzugs nimmt. 

Bisweilen sieht man in jungen Gesichtem 
solche merkwürdige, ergreifende Abzeichen 
eines höheren Seins, Siegel der Anmut oder 
Herrschaft oder der Poesie, die als das Aller- 
persönlichste erscheinen und doch mit der 
Person gar nichts zu tun haben, denn die 
Natur borgt sie nur auf kurze Zeit zur Er- 
innerung an einen früher in der Familie oder 
der Nation dagewesenen Typus. Es ist da- 
mit wie mit dem Familienschmuck aristo- 

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SS 






Sä® 



kratischer Geschlechter. Er wird der jeweili- 
gen Herrin vom Majordomus für das Fest 
eingehändigt und nach dem Gebrauch wieder 
abgenommen und verschlossen, denn kein 
Stück davon ist ihr eigen. — Erst wenn 
solch ein Siegel das 30. Lebensjahr über- 
dauert hat, kann man sagen, daß es kein 
geborgtes Anhängsel, sondern ein Stück 
Eigentum ist. 

Deshalb gilt auch von der äußeren Schön- 
heit das Wort: 

Was du ererbt von deinen Vätern hast, 
Erwirb es, um es zu besitzen. 




• 121 



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GEHEIM- 
* NISSE * 



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Das „Mystische“ nennen wir einen Zu- 
sammenhang, den wir fühlen, ohne ihn zu 
begreifen. 

Natur! Diese große Maschine, die uns 
zermalmt! Wenn wir nichts hätten, als die 
Natur, so müßten wir uns fühlen, wie der 
Verurteilte, der schon dem Henker übergeben 
ist. Statt dessen leben wir hin in vollkom- 
mener Zuversicht. Ein Metaphysisches geht 
immer unbewußt mit uns und macht uns 
über unser Schicksal ruhig. 

Es ist einer in uns, der die Phantas- 
magorie unseres äußeren Lebens träumt, und 
von der Richtung seiner Phantasie hängt es 
ab, wie diese Traumbilder sich gestalten. 
Selbst die unerwartetsten Zufälligkeiten, die 
aus dem Gebiete des blindesten Ungefährs 

*25 



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heranschießen, sind seine Gedanken. Dieser 
Träumer ist nicht mein Ich, aber zwischen 
ihm und meinem Ich besteht eine innige 
Wechselbeziehung. Irgendwie sind wir uns 
doch verwandt, ich bin sein Medium, und 
mein Wesen wirkt auf das seinige zurück 
und hilft ihm mein äußeres Leben bauen. 
Außerordentliche Schicksale treffen nur 
starke Seelen, weil der Träumer, der das 
Leben eines Oberflächlichen träumt, zu 
mächtigen Traumbildern keine Kraft hat. 

Wenn unverschuldetes, tragisches Ge- 
schick wie ein reißendes Tier den Edlen 
anfällt, so leidet mein Sinnliches mit ihm, 
aber mein Geistiges wird bewegt und ge- 
hoben durch die Tragödie, die der Träumer 
in ihm dichten muß, und ich fühle: ihm 
selber geht es ebenso. Denn nicht nur in 
dem, was einer tut, sondern auch in dem, 
was er bloß erleidet und wofür er scheinbar 
gar nichts kann, ist eine gewisse Auswahl 
und Anpassung zu beobachten. Wenn daher 
das schlechthin Unwürdige einen unbe- 
scholtenen Menschen trifft und ihn von dem 
Niveau, auf dem wir ihn bisher gesehen 

126 



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SS«»»« 



haben, herunterstößt, so kann ich mich 
des Eindrucks einer Mitschuld, freilich 
außerhalb der Grenzen der Verantwortlich- 
keit, nicht erwehren. Ist wohl irgend einmal 
der Träumer in ihm durch die Berührung 
seiner Innenwelt herabgezogen worden und 
hat fortan die Schranken seiner Würde nicht 
fest genug geschlossen, so daß das Niedrige, 
Unwürdige sich in seinen Traum einschlei- 
chen konnte? In den höchsten Menschen 
scheint eine Immunität gegen unwürdige Zu- 
fälle zu wohnen. Wenn wir alles Niedrige, 
Unwürdige aus unserem Geiste fernhalten, 
sollte das nicht den Träumer in uns stärken, 
daß er die niedrigen, unwürdigen Zufälle 
von unserem Leben ferneträumt? 

99 

DIE WELT EIN VEXIERBILD. Wo 
ist die Wahrheit? In welcher Religion, in 
welcher Philosophie, in welchem System 
menschlicher Gedanken ist das Ewige ein- 
geschlossen ? 

In jedem, wenn man es mit den Augen 
seiner Bekenner ansieht. 

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SHS^Si^SSgä! 






Und zu welchem wirst du dich bekennen ? 
Zu keinem. — Hier seht diese schöne, 
äußerst künstlich gemachte Zeichnung mit 
hellen Lichtern und tiefen Schatten und 
leisen Übergängen, die aus tausenden von 
Strichen besteht. Was stellt sie vor? 

„Nun, das ist klar. Eine Waldpartie mit 
Felsblock und rieselndem Wasser,“ sagt der 
eine. 

„Ei, wo denn?“ ruft der andere, der das 
Blatt von der entgegengesetzten Seite sieht. 
„Das ist ein Schäfer mit seinen Schafen.“ 
„Nichts von Felsblock oder Schäfer,“ er- 
klärt der dritte. „Ich sehe Friedrich den 
Großen, auf seinen Stock gestützt.“ 

Ihr habt alle recht. Es war ein sehr geist- 
reicher und geschickter Künstler, der das 
gemacht hat. Aber der Weltgeist ist noch 
tausendmal geschickter und geistreicher als 
er. Lies seine Zeichnung ab, wie du nur willst, 
immer und immer bringst du ein neues Bild 
heraus. Dabei bleiben gerade, wie auf dem 
Vexierbild, immer ein paar Striche übrig, 
die du in deinem Bild nicht unterbringen 
kannst, und die du in Gottesnamen wegläßt. 



128 



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Du hast ja nur die Erfahrungen deiner fünf 
Sinne, dieser armen Waisenknaben. Denke 
dir nun, du hättest mehr und feinere Organe 
— ja, denke dir nur, du hättest zum Beispiel 
den Raumsinn der Taube — wie viel neue 
Möglichkeiten das Weltvexierbild abzulesen 
und von den übrig gebliebenen Strichen 
da und dort etwas hineinzuziehen! Wie viel 
aber würde auch solch ein begabteres Wesen 
neue Striche aus der Unendlichkeit heran- 
schießen sehen, die wiederum in sein Bild 
nicht paßten und ihm neue Rätsel aufgäben! 
Und du, als der du vor mir stehst, glaubst 
des Pudels Kern gefaßt zu haben? Sei doch 
bescheidener. 

„So käme man denn dem Ewigen nie 
um einen Schritt näher?“ 

Das Ewige weiß in uns sich selbst und 
braucht nicht weiter gewußt zu werden; es 
hat daran in Ewigkeit sein Genüge. 

DAS ICH. Was haben wir nach dem 
Woher und Wohin, nach Anfang und Ende, 
was haben wir gar nach dem Warum der 



12g 



9 



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Dinge zu fragen, wenn der Frager nicht ein- 
mal weiß, wer er selber ist. Fort und fort 
fragt es in uns, wer wir seien, und wir können 
keine Antwort geben. Mutterseelenallein trei- 
ben wir auf dem Ozean des Daseins umher, 
wie in eine Austerschale in unser Ich ge- 
schlossen, in dessen Schranken wir niemals 
ein zweites Wesen auf nehmen können, auch 
das geliebteste nicht. Was ist dieses Ich, 
das sich selber lebenslang ein tiefes, schauer- 
volles Rätsel bleibt ? Ist es vielleicht ein 
Irrtum, eine ungeheuerliche Suggestion, die 
wir mit auf die Welt gebracht haben, ein 
eingebildeter Kreis, in den uns ein mächtiger 
Zauberspruch gebannt hat? So liegt durch 
sein eigenes Wort verzaubert Merlin hinter 
seiner Weißdomhecke, die ihm als ein eiser- 
ner Turm erscheint, und kann nicht mehr 
heraustreten, wie auch die Stimme der Ge- 
liebten ihn rufe. 

Mit unheimlichem Narreneigensinn muß 
das Ich an seiner innersten Zentralität fest- 
halten, die mit der Zentralität aller anderen 
im Widerspruch steht. Schon Kinder können 
darüber streiten, welches von ihnen denn 

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SS 



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SS 



das eigentliche Ich sei, wobei ein jedes 
natürlich sich selbst für dieses bevorzugte 
Wesen hält und die anderen für bloße Dus, 
also für Geschöpfe von geringerer Realität 
erklärt, und die nur beziehungsweise exi- 
stieren. 

Oder hat das Ich einen Grund zu diesem 
ihm selber so unbegreiflichen und schauer- 
lichen Anspruch? 

Sind wir die abgelösten Teile von einem 
Weltzentrum, auf das sich alles bezieht, zahl- 
lose, winzige Splitterchen, die die Zentrali- 
tät noch in sich haben, daß ein jedes sofort 
wieder zum Zentrum wird, auf das sich 
wiederum alles bezieht? Wer denkt es aus? 
Wer kann es fassen, daß Jeder Mittelpunkt 
ist und zugleich ein Teil von dem Kreis, 
der um den Mittelpunkt schwingt ? 

Wie man das Ich ansehen mag, immer 
widerspricht es der Vernunft — die „Ketzerei 
des Ichs“ sagt der Inder — und es ist doch 
unser einzig Gewisses in einem Meer von 
Vorstellung, das die Außenwelt heißt. 

131 9* 



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Dennoch existiert auch das Ich nur durch 
eine Beziehung, denn es hat seine Zentrali- 
tät einzig durch das Gefühl der Gegenwart 
und jeden Tag fällt es uns wie ein abgelegtes 
Kleid vom Leibe. Mein gestriges Ich hat 
seine Zentralität verloren und ist für mich 
selber ein Stück Außenwelt geworden, es 
ist wie die Toten nur Vorstellung. Seine 
Handlungen wirken zwar auf mich nach, 
aber das tun die Handlungen der anderen 
auch, seine Freuden und Leiden berühren 
mich noch, aber höchstens wie die einer 
nahestehenden Person. Es ist mir in allem 
noch gleich, nur in der Hauptsache nicht: 
es ist nicht mehr in mir, sondern wie alle 
anderen Dinge außer mir. 

Das Ich ist von der Gegenwart unzer- 
trennlich, was aber ist die Gegenwart? 

Dieses metaphysische Ich-Bewußtsein, 
das mitunter wie ein Abgrund zu unseren 
Füßen auf gähnt, hat gar nichts zu tun mit 
dem gewöhnlichen triebartigen Ichgefühl, das 
sich im Handeln äußert, und dessen Über- 

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SS 



wuchern Selbstsucht und Eigennutz heißt. 
Es ist ihm vielmehr gerade entgegengesetzt: 
jenes sieht ganz naiv das Ich als das ge- 
gebene an und geht, wie von einem Dämon 
geführt, blindlings seinen Weg, an den 
Rechten und Bedürfnissen der anderen vor- 
über. Dieses stutzt vor dem Ich als vor einem 
Irrtum und ist zu rücksichtsloser Verfolgung 
der eigenen Wünsche ungeschickt, weil es 
eine viel zu deutliche Vorstellung von den 
Zuständen der anderen hat. Im fremden Ich 
erkennt es oft, wie durch eine Verkleidung, 
das eigene Ich, aus Worten, die ein längst 
verstummter Mund vor Zeiten gesprochen 
hat, treten ihm die eigenen Gedanken ent- 
gegen, es fühlt das innerliche Einssein aller, 
die leben, die gelebt haben und die noch 
leben werden, und die eigene Person er- 
scheint ihm dann plötzlich als etwas Unwirk- 
liches, als ein Phantasiegebilde, als eine 
Maskenrolle in einem vorüberflutenden Mas- 
kenzug. 



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AUSGLEICH. Erwarte keine Gerechtig- 
keit des Geschicks für das Einzeldasein. Ge- 
rechtigkeit wird walten, aber sie wird dir 
als Individuum nichts mehr nützen, sie wird 
d^r nützen, insofern, als du ein Teil der 
Menschheit bist, denn es ist irgendwo ein un- 
sichtbares Glied, das uns alle an die Zukunft 
knüpft. Sind nur die christlichen Märtyrer 
mutig gestorben, weil sie auf eine nahe Be- 
lohnung zählten? Nein, es gab Philosophen, 
die mit demselben Mut für eine Weltan- 
schauung starben, von der sie keinen per- 
sönlichen Lohn erhoffen konnten. In jedem, 
der sich für eine Sache opfert, brennt ein 
heiliges Feuer und gibt ihm die wärmende 
Sicherheit, daß er durch sein Ende der 
Menschheit nützt. Er nützt ihr, selbst wenn 
er sich für eine falsche Sache in reinem 
Glauben hingibt. Er macht Wärme frei. Wäre 
die Menschheit nicht ein großes Individuum, 
so wäre jeder, der sich für ein Ideal opfert, 
ein Narr. Ein Narr wäre der Soldat, der für 
einen dreifarbigen Zeugfetzen, die Elle zu 
zwanzig Pfennigen, sein Leben läßt. Aber 
wir fühlen an dem Schauer, der uns dabei 



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über den Rücken läuft, daß er kein Narr 
und daß sein Opfer nicht vergebens ist. Viel- 
leicht dient es zu nichts anderem, als einen 
Dichter zu entzünden, daß er durch ein herr- 
liches Lied die Begeisterung weiterträgt und 
so die Wärme erhält. 

Der unausrottbare Idealismus der 
menschlichen Natur ist der Beweis, daß die 
ganze Menschheit in Vergangenheit, Gegen- 
wart und Zukunft nur ein einziges Wesen ist. 

ANPASSUNG. Überall wird die Rose 
vom Efeu erstickt, wo sie beisammen hausen. 
Wenn man zweierlei Pflanzen in einen Topf 
pflanzt, so darf man sicher sein, daß die 
edlere Art zu Grunde geht. Dieser alten Gärt- 
nerregel gegenüber hat doch der Satz vom 
Survival of the fittest ein recht wunderliches 
Gesicht. Das Unkraut schafft sich immer 
Platz, feinere Blumensorten bedürfen der 
Pflege. Aber soll das heißen, daß der eigent- 
liche Zweck der Natur das Unkraut sei? 

Die Geschichte erzählt uns, und die Poe- 
sie hat es zu allen Zeiten verdolmetscht, 

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daß die edelsten Gestalten sieglos untergehen 
mußten. Viele würden heute mit Achsel- 
zucken sagen: Solche Naturen sind eben 
nicht lebensfähig. Dabei aber leben sie doch, 
überleben die Alltagsnaturen um Jahr- 
tausende, der Geist, der in den schwachen, 
zerbrechlichen Gehäusen wirkte, wird zu 
einer Macht, die den blinden, materiellen 
Gewalten die Schale hält. Das Edle ist also 
doch wohl das Anpassungsfähigere, da es 
sich zwar nicht seiner Umgebung, wohl aber 
den Jahrtausenden anzupassen weiß. 

AUS DEM HAUSHALT DER NATUR. 
In der Verwaltung der Natur wird nicht jeder 
begabte Mensch für alle Lebensalter gleich 
gut ausgestattet. Mancher ist in den Zwan- 
zigen schon völlig reif, ein reicher, glän- 
zender, berückender Jüngling, und wird doch 
nie ein Mann, der imponiert. Auch auf das 
Äußere pflegt sich diese Einschränkung zu 
erstrecken, indem es später an Stelle eines 
ausgereiften Mannes nur einen älter ge- 
wordenen Jüngling zeigt. Wie manches viel- 



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versprechende, junge Genie wird bei seinem 
frühen Tode unnützerweise heiß beweint, da 
doch sein ganzes Entwicklungsfeld bereits 
durchlaufen war. Es gibt auch geniale Kin- 
der, die zum Frühsterben geboren werden. 

Andere sind ganz eigens auf das Man- 
nesalter angelegt. Das sind die unliebens- 
würdigen, wortkargen Kinder, die knorrigen, 
eigensinnigen, unwirschen, unfertigen jun- 
gen Leute, die erst, wenn sie die Mannes- 
jahre erreicht haben, die Borstenhülle ab- 
werfen und verwandelt in würdiger Männlich- 
keit dastehen. Ja, es soll wirklich vorgekom- 
men sein, daß aus dem Zottelpelz eines 
Bären, nachdem er vielen Unfug getrieben 
und nur ab und zu seine höheren Züge hat 
ahnen lassen, am Ende noch ein verwunsche- 
ner König ausgekrochen ist. 

Endlich gibt es deren, die so lange Zeit 
brauchen, daß sie erst als Greise recht ge- 
nießbar sind. Das sind die seltenen, herben 
Spätherbstfrüchte, die noch den halben Win- 
ter im Keller lagern müssen, um endlich 
völlig süß und schmackhaft zu werden. 



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SS 









Weise Einrichtung der Natur, die nicht alle 
Früchte für dieselbe Jahrszeit reifen läßt. 

Ist es nicht, als ob in schöpferischen 
Individuen eine Ahnung dämmre, auf welche 
Ablaufszeit ihre Uhr konstruiert ist? Heim- 
liche Stimmen, die dem einen zuraunen : Laß 
dir Zeit!, dem anderen: Eile dich! Der 

so Gespornte sprüht und glänzt dann immer 
stärker und hilft durch die Eile, mit der 
er von sich schüttelt, was er zu geben hat, 
nur die Erfüllung des Geschicks beschleu- 
nigen. 

Aber haben nicht auch andere Menschen 
gelegentlich, zum Beispiel in fieberhaften 
Krankheiten, wo das wache Bewußtsein 
unterbrochen ist, solches plötzliche Abtasten 
der Zeitspanne, die ihnen noch gehört? Wenn 
die Lampe geschüttelt wird, so fühlt man, 
wieviel öl übrig ist. 



n 

Sobald eine begabte Nation oder Rasse 
oder Familie anfängt, nur noch für den 
Augenblick zu leben, ist es ein Zeichen, daß 
es mit dieser Familie, dieser Rasse, dieser 

138 



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» i w&as&sm m. 






Nation zu Ende geht. Denn alle Lebens- 
stärke schafft und wirkt, auch ohne es zu 
wissen, für die Zukunft und stellt das Ich 
hinter die höheren Zwecke zurück. Wo der 
Einzelne sich als Selbstzweck betrachtet, hört 
die Weiterentwicklung auf. Mit dem be- 
gabten Individuum, das aus einer hohen Tra- 
dition herstammt, aber deren Pflichten nicht 
mehr anerkennt, sondern sich einem schran- 
kenlosen Ichgefühl hingibt, hat sich die Kraft 
der Natur erschöpft, und der Niedergang 
beginnt; die Nachkommen fallen in die 
Masse zurück. Es ist dies aber nicht Wahl 
des Schlechteren, sondern der unabweisliche 
Instinkt, daß die Uhr im Ablaufen ist. Ur- 
sache und Wirkung fallen ins eins zusammen. 

Kreuzzüge, Geißelgenossenschaften, Ket- 
zerverfolgungen, Aufklärung, französische 
Revolution und roter Schrecken. — Der Welt- 
geist ist wie einer, der eine schwere Last trägt 
und sie immer von einer Schulter auf die 
andere wirft, ohne sie abwälzen zu können. 

« 

139 



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Napoleonische Soldaten, von ihm über 
den geschwollenen Dniepr kommandiert, wer- 
den fortgerissen, und im Ertrinken suchen 
sie noch einmal den Mund über Wasser zu 
bringen und rufen: Vive l’empereur! Dunkler, 
seltsamer Seelenvorgang, der gegen das phy- 
sische Gesetz der Selbsterhaltung zu streiten 
scheint, denn die Energie, die sie zum 
Schreien brauchen, wird von ihrem letzten 
Widerstand gegen das Wasser abgezogen. 
Und doch ist es, glaube ich, nur eine höhere, 
geistigere Form des Selbsterhaltungstriebes. 
Das Bewußtsein will sich noch einmal be- 
tätigen, ehe es untergeht. Es klammert sich 
an diesen Ruf, der ihm sein ganzes Streben 
ausdrückt, wie an eine Planke, die es noch 
einen Augenblick über Wasser hält. 



Was ist die Heiterkeit des Alters und 
seine Resignation dem Leben gegenüber? 
Werden nicht auch die Träume leichter, 
wenn es dem natürlichen Aufwachen zu- 
geht, und schleicht sich nicht um die Däm- 

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merstunde zuweilen schon eine Ahnung von 
ihrer Unwirklichkeit ein? 

ROMANTIK IN DER NATUR. In den 
Wolkenbildern ziehen die Träume des Erd- 
geists sichtbar vorüber. Auch er kann, wie 
der Mensch, nur Formen träumen, die er 
schon gesehen hat. Bergzüge, Kastelle, kämp- 
fende Reiterscharen, Frauen in wehenden 
Gewändern, menschliche Profile — so por- 
träthaft, daß man weiß, sie müssen einmal 
gelebt haben — Affen, Giraffen, Kamele, Kro- 
kodile und Meerscheusäler. Auch die in der 
Urzeit gesehenen Ichtyosauren und Ptero- 
daktylen kommen ihm im Traume wieder 
mit allen Gestalten, die sind und waren. 

Aber nicht nur den Wolken, auch allen 
Zufallsgebilden gibt er im traumhaften Ge- 
staltungstrieb solche spielerische Formen. 
An verwitterten Baumstämmen versucht er 
sich als Bildschnitzer. Die vom Meere zer- 
riebenen Holzsplitter zertrümmerter Schiffe 
formt er in artiges Kinderspielzeug; sauber 
modellierte Fische und Vögel, Eulen, die 

Mi 



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SB 









in Baumstämmen hocken usw. Und so sinn- 
voll geht er dabei zu Werk, daß er gern die 
Augen im Holze stehen läßt, um sie zu 
Tieraugen zu verwenden. Alles in der Natur 
strebt zur Form, auch das unorganische und 
desorganisierte; weil es keine zweckmäßige 
Form mehr haben kann, hüllt es sich in eine 
nachgeahmte, spielhafte. Ist das nicht die 
reine Bildfreude der Natur? Und dabei 
kommt nie eine neue Form heraus, es sind 
stets die alten, die wir schon kennen, launen- 
haft zusammengestellt. Das ist die Romantik 
in der Natur, die auch ihr Recht will. 




142 



1 



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VON DER 
SPRACHE I 

i 



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Der Dichter hat seherische Kräfte, schon 
weil er mehr als jeder andere über die Kräfte 
der Sprache verfügt, die an sich die größte 
Seherin ist. 

** 

Die Sprache, die wir als unsere Dienerin 
brauchen, ist viel weiser als wir. Unauf- 
hörlich raunt sie uns Geheimnisse zu, die 
wir nicht verstehen. Was der Verstand er- 
grübelt, was die Entwicklung ans Licht 
bringt, hat die Sprache längst vorausgesagt, 
nur sagte sie es tauben Ohren. Ihre Orakel- 
sprüche werden erst verstanden, wenn die 
Erfüllung eingetreten ist. 

Die tiefsten Seherkräfte scheint die alte 
Sprachenmutter Sanskrit zu besitzen, wenn 
man den Bramanen glauben darf, die ver- 
sichern, daß noch niemals die Worte der 
Veden in ihren tief inneren Bezügen und 

145 1° 



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Spiegelungen von einem Abendländer richtig 
verstanden worden seien. 

Ein philosophischer Geist waltet durch- 
weg auch in unserer Muttersprache. Wie be- 
zeichnend ist die Wandlung des Wortes 
„feige“, das im Mittelhochdeutschen den zum 
Tode Reifen bedeutete, in seinen heutigen 
Begriff. Die Sprache schloß von der Wir- 
kung auf die Ursache und scheint uns sagen 
zu wollen, daß den Tapferen die Götter schir- 
men. Daß „Elend“ einst nichts anderes war, 
als Verbannung, wer denkt noch daran, seit 
die Erde eine große Heimat geworden ist, 
die alle schützt? Das Wort müßte uns er- 
innern, daß das Elend heute keine vom Staat 
verhängte, sondern eine selbst gewollte Strafe 
ist. Und noch so manches andere geben uns 
die Worte zu denken. Einst war „Wunsch“ 
die höchste Glücks e rf üll u ng, die Wonne 
selbst. Das Wunschland war unseren Alten 
das Land der Seligen, ihr oberster Gott führte 
selber den Beinamen des Wunsches. Aber 
seit die Sprache älter geworden ist und nicht 

146 



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s^ss® 



mehr an Märchen glaubt, hat der selige 
„Wunsk“ sich des Besitzes entschlagen 
müssen und lebt jetzt nur noch in der Sehn- 
sucht. Das Wesenhafte hat sich aus ihm 
verflüchtigt zum Zeichen, daß die höchste 
Existenz des Glückes im Wunsche sei. 






Es gibt unserer Muttersprache einen tie- 
fen und eigenen Zauber, daß so oft in einem 
Wort mehrere Bedeutungsschichten über 
einander liegen, die ein feineres Ohr, auch 
ohne sprachkundig zu sein, noch durchhören 
kann. Selbst in Kinderohren klingt, wenn 
sie ein solches Wort zum ersten Mal hören, 
noch ein Stück von seiner Vergangenheit 
mit herein und läßt das Wort als etwas ge- 
heimnisvoll Lebendiges erscheinen. Und 
auch durch ihre inneren Beziehungen und 
Verwandtschaften spiegeln sie einen tieferen 
Sinn, als sie aussprechen können, daß oft 
in einem angeschlagenen Tone der ganze Ak- 
kord mitklingt. 



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10 " 



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Darum ist unsere Sprache so ahnungs- 
reich in der Poesie und kann oft mit so wenig 
Mitteln wirken, wenn sie auch an rein melo- 
dischem Reiz hinter anderen Sprachen zu- 
rücksteht. 



Ein seltsames Phänomen! Der sprach- 
liche Ausdruck verroht in allen Ländern, 
während die Sitte sich verfeinert. Das gilt 
auch von der feinsten, der italienischen. Im 
Quattrocento sagte man „mi saetta“, jetzt sagt 
man „mi colpisce“, in hundert Jahren sagt 
man vielleicht „mi ammazza“, um auszu- 
drücken, daß eine Sache unsere Aufmerksam- 
keit erregt. 

W 

Guter Stil beruht auf einem reinen 
und tiefen Wahrheitsgefühl. Hinter allem 
schlechten Stil steckt immer eine gewisse 
Verlogenheit oder wenigstens Wahrheits- 
scheu. Selbst die unsichere Behandlung der 
Temporalformen bei der Mehrzahl der heuti- 
gen Schriftsteller hat keinen anderen Grund. 

148 



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Alle die zur Feder als ihrem Handwerks- 
zeug greifen, sollten zuvor ein Ordensge- 
lübde auf Reinheit und Treue der Sprache 
ablegen müssen, bei dessen Verletzung sie 
des Rechtes zu schreiben verlustig gingen. 
Wenn unsere Schriftsteller, Journalisten, 
Redner noch eine Weile so fortfahren, wie 
bisher, so werden die späteren Geschlechter 
das Material, aus dem sie ihre geistige Welt 
aufbauen sollen, gänzlich entwertet vor- 
finden, und sie werden vielleicht zur Schande 
ihrer Vorfahren, die ihr edelstes Erbgut ver- 
schleudert haben, zu einer fremden Sprache 
greifen müssen, um klare und tiefe Gedanken 
auszudrücken. 

Es ist ein Fluch der Affektation, daß 
sie die Schwachen zur Nachahmung reizt. 

Hat ein begabter Mensch eine Grimasse 
an sich, so steckt er gewiß seine Umgebung 
damit an, und ein temperamentvoller Schrift- 
steller, der eine stark ausgesprochene Manier 
im Schreiben hat, kann ein ganzes Zeitalter 
mit Manierismus durchseuchen. Das ist ein 

149 



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Feld, wo jeder seinen Charakter üben kann, 
indem er sich dem Weitergreifen der Un- 
natur widersetzt. 

„Ja, wenn die Gesundheit ansteckend 
wäre, wie die Krankheit!“ entgegnen die 
Gleichgültigen. 

Auch die Gesundheit ist ansteckend, 
zweifelt nicht daran, nur daß sie sich viel, 
viel langsamer verbreitet. Die reichen Eng- 
länder wissen es, die, um sich von nervöser 
Schwäche zu heilen, einen „strong man“ zur 
Gesellschaft nehmen, aus dessen Anblick sie 
Kräfte ziehen. 

Sollte nicht auch der geistig Starke und 
Gesunde fähig sein, den schwächeren Zeit- 
genossen diesen Dienst zu leisten? 

Unsere Kultursprachen sind alle keine 
vollwertige Münze mehr. Kein Wort hat 
für unser Ohr den ursprünglichen Klang, 
der gleich das frische Bild vor die Augen 
zaubert ; es ist schon viel zu viel damit 
gelogen, geheuchelt, geflunkert worden. 

150 



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Deshalb hat man auch keine richtige Vor- 
stellung von dem, was die Poesie der 
Griechen war. Wenn wir zum Beispiel 
„Rose“ sagen, so taucht mit dem Bild der 
Blume auch schon dunkel die Erinnerung 
an all den sentimentalen Mißbrauch auf, der 
unempfundenerweise mit dem Namen getrie- 
ben worden ist, und macht das lebendige Bild 
der Blume blässer. Wie muß die Rose ge- 
leuchtet und geduftet haben, weit über alle 
Wirklichkeit hinaus, wie muß sich zu dem 
Leuchten und Duften noch ein magisches 
Klingen gesellt haben, als sie zum ersten 
Mal in verklärter Schönheit von Dichterlippen 
fiel. All dieses Leuchten, Klingen und Duf- 
ten ist ihr verloren gegangen, seitdem ihr 
Name durch hunderttausende von Dichter- 
lingen aller Nationen zur hohlen Metapher 
geworden ist. Es braucht die stärkste Vision 
des Dichters, damit ich von seiner Rose 
sagen kann: Dies ist die wahre Rose — 
und von seiner Nachtigall: Ja, dieser Vogel 
singt wirklich in seiner Seele. 

Mit Worten, die etwas Abstraktes dem 
Stofflichen entnehmen, sieht es natürlich 

I5i 



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noch viel schlimmer aus, weil das Stoffliche 
aus dem Worte geschwunden ist und nur 
der leere Begriff zurückgeblieben, der, seit 
seine konkrete Herkunft vergessen ist, sich 
die mißbräuchlichsten und sinnlosesten An- 
wendungen gefallen lassen muß. 

Jeden echten Dichter treibt seine Wahr- 
heitsliebe und seine starke sinnliche Vor- 
stellungskraft, dem Wort seinen Vollgehalt 
zu bewahren. Aber sein weißes Unschulds- 
kleid gibt ihm auch der Größte nicht zurück. 
Es müßten sämtliche Kultursprachen unter- 
gegangen sein und neue, jungfräuliche 
Sprachen aus dem Chaos heraufgestiegen, 
ehe eine neue Jugendherrlichkeit, wie sie 
einst die homerischen Gesänge besaßen, die 
Welt entzücken könnte. 



152 



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AM FEIERABEND. Die Seele eines 
Volks erlauscht man an seinen Feier- 
abenden. Wenn ich unsere deutschen Bauern 
des Abends im schwach erhellten Biergarten 
singend beisammen sitzen sehe, so muß ich 
am Zaune stehen bleiben und horchen. Die 
heiseren, ungeschickten Stimmen sind nicht 
in der Gewalt der Sänger und geben häufig 
falsche Töne von sich, aber der Wille ist 
so rührend gut. Und es klingt etwas Tief- 
klagendes heraus, wie ein Naturlaut der 
schmerzlichsten Sehnsucht, von dem die 
braven, biertrinkenden und auf ihre Art ver- 
gnügten Leute selbst nichts wissen. Sie sind 
nur das rauhe, schlecht gestimmte Instrument, 
auf dem der Genius des deutschen Volkes 
seine tiefe, unstillbare Sehnsucht nach dem 
Schönen klagt. Ich höre die alten, geliebten 
Volkslieder wieder, die so kunstlos aus dem 
Mutterboden der Poesie gestiegen sind. Aber 
wie werden sie gesungen ? Das wimmert und 
klagt in lang gezogenen Lauten, das stöhnt 

155 



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und schmachtet, wie nach einem Strahl von 
Schönheit. Meint man nicht den tauben Bee- 
thoven zu sehen, wie er einem alten, ver- 
stimmten Klavier mit seligem Lächeln, das 
nach innen lauscht, ein ohrenzerreißendes 
Konzert entlockt? 

Ich aber denke an die florentinischen 
Sternennächte und an die Schwärme junger 
Leute, die eilenden Fußes mit ihren Mando- 
linen und Guitarren durch die Straßen ziehen 
und unermüdlich singen, singen mit Stim- 
men, die niemals fehlgehen, die so voll, so 
klar, so sicher sind, wie der Genius Italiens. 
Wie taktfest ist ihr Gesang, ihre Töne wie 
mühelos, wie adlig frei, ganz vom am Rand 
der Lippen geboren. Und mit diesen wunder- 
vollen Stimmen, in diesen goldklaren Tönen 
singen sie die banalsten Operettenarien, ganz 
ohne Empfindung für den überirdischen 
Glanz ihrer Gestirne droben. O arme 
deutsche Volksseele, wenn dir ein solches 
Instrument gehorchte, du würdest dein 
Inneres darauf ausströmen in einem Ge- 
sänge, wie ihn die Welt noch nicht ver- 
nommen hat. 



156 



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Aber so gut soll es dir nicht werden. 
Das Bier und deine eigene Schwere binden 
dich mit eisernen Reifen. In den Gärten 
trinken, kegeln und taumeln sie. Wie der 
Abend vorrückt, wird ihr Gesang zum Ge- 
heul, zum Gebrüll, so wild und so tief melan- 
cholisch zugleich, wie von einem eingesperr- 
ten Dämon, der sich nutzlos quält, seine 
Bande zu sprengen. Und Entsetzen jagt die 
Lauscherin von hinnen. 

W 

UNSERE MÄRCHEN. Das echte deut- 
sche Märchen hat prophetische Züge und 
ist völlig elementarer Natur. Es ist ja auch 
kein Produkt der Kunst, sondern aus dem 
Trümmerfall unserer alten Mythen, unserer 
alten Religion hervorgegangen. Bei keinem 
anderen Volke haben sich die entthronten, 
aber immer noch mächtigen Götter zu Spiel- 
kameraden der Kindheit hergegeben. Das 
goldene Spielzeug, womit sie spielen, das 
sind Allvaters uralte, zerbrochene Runen- 
tafeln, worin seine Weltgedanken einge- 
graben stehen, jene Tafeln, deren Wieder- 
finden am neuen Weltenmorgen die Edda 

*57 



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verheißt. Das deutsche Märchen ist das Ida- 
feld, auf dem die verkündigte Wiederkehr 
der alten Götter und ihr friedliches Beisam- 
menwohnen in Erfüllung gegangen ist. 
„Wohl ist den Wahlgöttem, wißt ihr da- 
von ?“ 

Auch wer es nicht weiß, fühlt an dem 
freudigen Ehrfurchtsschauer, der ihn durch- 
läuft, daß hinter diesen Gestalten Wesen 
höherer Art sich bergen. Darum hat auch 
das deutsche Märchen, wie die Märchen 
keiner anderen Nation, einen tief ethischen 
Gehalt, es weist immer nach einer höheren 
Gerechtigkeit. Der unschuldige Kindersinn 
bleibt Sieger, und fast immer behält der 
Dumme, kraft einer höheren Vernunft, dem 
Schlauen gegenüber Recht. Es predigt ja 
sogar, und mit tausend Zungen, das Recht 
und den Wert der Tiere und reicht da- 
durch in eine noch höhere Ethik der Zu- 
kunft herüber. Hier fällt schon ein Strahl 
der allumfassenden, indischen Humanität her- 
ein, die auch das Tier in ihr „das bist du“ 
einschließt. 

Merkwürdig ist, wie unser Märchen 
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diesen ethischen Goldgehalt verliert, sobald 
es sich auf fremdem Boden einbürgert. In 
Sizilien zum Beispiel sind die schönsten 
deutschen Märchen so unbefangen zu Hause, 
als ob sie dort gewachsen wären, aber sie 
sind reines Spiel der Phantasie oder sym- 
bolisiertes reales Leben geworden. Die Mo- 
ral hat sich völlig umgekehrt: dem Schlauen 
gehört die Welt, und wer sich überlisten 
läßt, der hat es nicht besser verdient. Der 
Genius der lateinischen Völker ärgert sich 
nämlich über den Unklugen, den Tölpel, der 
die Gottesgabe seiner fünf Sinne nicht richtig 
zu benutzen versteht, und gibt ihn scho- 
nungslos dem Verderben preis. Das ist 
seine poetische Gerechtigkeit. 

DER KAMPF UM DIE FORM. Gegen 
die wieder ausbrechende Deutschtümelei in 
der Literatur und Kritik, die alles Streben 
nach der Kultur des Südens als antipatrio- 
tisch verschreit und auch Goethe nur bis zu 
seiner italienischen Reise gelten lassen will, 
sollte man immer daran erinnern, daß der 
Zug nach dem Süden, dem Lande der Form, 

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ein nationaler Zug ist. Im Gothen, im 
Hohenstaufischen Kaiserhaus, überhaupt im- 
mer, wenn der Deutsche sich regen konnte, 
wurde dieser Trieb zur Tat. Das hellenisch- 
römische Formgefühl gewinnen, es mit dem 
tiefen, prophetischen Geiste des Germanen- 
tums durchdringen, das istjund bleibt die Kul- 
turaufgabe der Deutschen. 

„Aber du willst uns zu Griechen machen, 
du vergißt ganz, daß wir von Natur formlos 
und nebelhaft sind.“ — Wie könnte ich das 
vergessen ! Aber seine eigenen Mängel kulti- 
vieren, kann das die Aufgabe einer Kultur 
sein ? 

*» 

AM ABEND EINER KULTUR. Je aus- 
geglichener eine Kultur, desto weniger diffe- 
renziert sie sich mehr in ihren Individuen. 
Sie gleicht einem ruhigen Abendlicht, das die 
Gegensätze aufhebt. Das heutige Italien hat 
keine ganz überragenden Persönlichkeiten 
mehr aufzuweisen, weil Geist, Talent und 
Bildung schon zu gleichmäßig in der Nation 
verteilt sind. Bei dieser Austeilung fällt 
keinem einzelnen mehr eine so große Masse 

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von Talent und Tüchtigkeit zu, daß er sich 
gegen Hunderttausende in die Wagschale 
werfen könnte. Das Volk ist hochmusika- 
lisch und bringt doch keine Titanen der 
Musik hervor. Es lebt in einem Element 
von Poesie, die ihm als unmittelbare Emp- 
findung und als naive Bildersprache von 
selber zufließt, und hat seit Jahrhunderten 
kein Dichtergestim erster Größe gehabt. 

Bei uns ist das Volk unmusikalisch und 
unpoetisch, so kamen wir zu einem Goethe, 
einem Beethoven, und noch immer kann von 
Zeit zu Zeit einer aufstehen, der die ganze 
Musik, die ganze Poesie an sich rafft, während 
die Menge um ihn her arm bleibt. 

9? 

TYPEN UND INDIVIDUEN. Italien ist 
das Land der Typen. Der ursprüngliche 
Mensch, der an keine Zeit und keinen Stand 
geknüpfte, stirbt dort nicht aus. Deshalb 
liefert dieses Land den Dichtem wie den 
Künstlern die vollkommensten Modelle. Nir- 
gends wird die Sprache der Leidenschaft 
natürlicher gesprochen, alles ist tief, satt und 

161 ii 



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einfach, und diese erdgeborene Menschlich- 
keit ist der Untergrund aller Kunst. So muß 
ja auch der Bildhauer den nackten Körper 
aufs genaueste kennen, selbst wenn er den 
bekleideten darstellen will. 

In Deutschland ist alles komplizierter und 
farbloser. Die Stände haben den Menschen 
verdrängt. Zwar ist der Abgrund zwischen 
den Ständen äußerlich gar nicht so breit, 
wie in Italien: die Form der Anrede ist die- 
selbe, und die materiellen Ansprüche gleichen 
sich immer mehr aus. Aber in der Tiefe 
klafft der Riß am weitesten. Jeder Stand 
ist durch ein ganz verschiedenes Seelenleben 
von den anderen getrennt, und die gebildete 
Klasse hat noch überdies in jedem Jahrzehnt 
eine neue Physiognomie, die ihr die jeweilige 
Geistesmode aufdrückt. Nun gibt es freilich 
innerhalb dieser Schranken die stark ent- 
wickelten, hochkomplizierten Individualitä- 
ten, von denen man in Italien kaum eine Ah- 
nung hat. Aber die einfache Grundform des 
Menschen ist ausgestorben. 

Was im Deutschen ein Original heißt, 
das nennt der Italiener „un tipo“. Die Sprache 



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verrät hier das Geheimnis einer Schattierung, 
die dem Geiste nicht bewußt ist. In Italien 
strebt alles zum allgemeinen. Zwar wird viel- 
leicht nirgends der Standesunterschied äußer- 
lich mehr respektiert, der Vornehme dutzt 
den Geringen, der diese patriarchalische 
Form ganz natürlich findet. Dabei wissen sie 
aber beide: der Unterschied ist etwas rein 
Äußerliches, im Fühlen, Denken, Handeln 
sind sie gleich, sind eben Menschen. Der Ab- 
stand der Bildung, der in Deutschland so viel 
Gehässigkeit erregt, kommt dem gemeinen 
Mann in Italien gar nicht zum Bewußtsein, 
er kennt nur den Unterschied zwischen dem 
Besitzenden und dem Nichtbesitzenden, den 
ein Lottogewinnstüber Nacht aufheben kann. 

DER GENIUS DER LATEINISCHEN 
RASSE. Der lateinische Genius ist ein so 
einfacher und zugleich so wundervoller Me- 
chanismus. Er muß uns Germanen immer 
aufs neue entzücken, wenngleich sein Zeug 
nicht überall ausreicht. Denn dieser feine, 
rasche, sonnenhelle Geist hat keinen Zugang 

163 11* 



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zu den geheimnisvollen, unterirdischen Ge- 
wölben, auf denen unsere große Kunst ruht: 
ein Beethoven konnte nur ein Deutscher sein. 
Unendliche Gebiete bleiben dem Romanen 
verschlossen: das Helldunkel der Empfin- 
dungen und der rätselhafte metaphysische 
Untergrund der Dinge, das Reich der „Müt- 
ter“. Wenn wir da ankommen, lassen unsere 
italienischen Freunde uns allein gehen, sie 
fürchten sich wie Kinder vor dunklen 
Kammern. 

Die festen Schranken der Erde sind ihnen 
zu lieb. Es ergreift sie ein schreckhaftes 
Gefühl, wenn sie uns nach dem grenzen- 
losen Raume steuern sehen, es ist ihnen, 
als müßten wir ins Leere stürzen, als sollten 
sie uns an den Kleidern festhalten. 

*¥ 

Respekt vor der Form ist die Stärke des 
lateinischen Geistes und seine Schwäche zu- 
gleich. Die italienische Renaissance hatte aus 
der katholischen Kirche ihre innerste Seele 
herausgeblasen, die leergewordene Schale an- 
zutasten, fiel ihr niemals ein. Nicht nur die 
heidnisch gesinnten Weltkinder respektieren 

164 



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sie, auch der glühende Asket Savonarola 
wagte nicht, die letzte Konsequenz seiner 
reformatorischen Ideen zu ziehen; nur die 
Personen griff er an, nicht das System. Die 
festgefügte, überkommene Form hielt ihn in 
unentrinnbarem Bann, und ein abergläubi- 
scher Schauder riß ihn auf die Knie, als 
es ein Anrennen gegen den tausendjährigen 
Bau gegolten hätte. 

Dazu brauchte es den harten Schädel 
eines deutschen Mönchs, der ein naives Na- 
turkind war, auch Wein, Weib und Gesang 
nicht verschmähte und ohne Furcht vor 
Überkommenem die Welt aus den Angeln 
hob. 

r* 

DAS HELLENISCHE IM ITALIENER. 
Das persönliche Auftreten der Griechen kann 
man sich nur durch die Italiener leibhaft vor- 
stellen. Wie Perikies vor allem Volk weinte, 
als er die Aspasia verteidigte, davon gibt 
nur der italienische Volksredner noch einen 
Begriff. Sich selber spielen wird bei allen 
anderen Völkern zur Unnatur, und besonders 

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der Germane tut wohl daran, seine Emp- 
findungen nur erraten zu lassen. Einzig der 
Italiener besitzt noch von Natur die starke 
Geste, die den Affekt ganz unmittelbar und 
mit höchster Würde ausdrückt. 

KULTURMISSION DER RÖMER. Man 
schelte mir nicht die Römer. Ohne ihr Welt- 
reich wäre keine der heutigen Kultumationen. 
Das Griechentum brachte den Samen aller 
Kultur hervor, aber es hatte nicht die Kraft, 
ihn weit genug zu verbreiten. Dann kamen 
die Römer wie ein Sturmwind und trugen 
ihn über die ganze Erde. Freilich wußten 
sie nicht, was und weshalb sie es taten. 
Wenn die Weltgeschichte einem ein Amt 
gibt, so teilt sie ihm nicht zugleich ihre ge- 
heimen Absichten mit. Deshalb schelte man 
mir doch die Römer nicht. 

DIE RUSSEN. Unter den heutigen Lite- 
raturen ist nur die russische völlig boden- 
wüchsig, weil sie unter ganz eigenen Lebens- 
bedingungen steht. Das russische Volk hat 

x66 



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keinen Teil an dem großen Kulturerbe der 
westlichen Völker, es ist nicht einmal unser 
Zeitgenosse. 

Ein Stiefkind der Sonne, steht es zwischen 
zwei unerbittliche Mächte eingeklemmt : eine 
Natur voll Schrecken und eine unentrinnbare, 
ebenso grausame wie korrupte Staatsgewalt. 
Die Kunst, die uns Prometheuskindern 
das Dasein erhellt, hat nie in das ihrige ge- 
leuchtet. Nichts kann den Druck von ihnen 
nehmen, als zeitweiliges Vergessen durch be- 
rauschendes Getränk. Nie hat der Gedanke, 
der Titanensohn, in ihnen sein trotziges 
Haupt erhoben und in die Sterne gegriffen. 
Den gewaltigen Stolz der Menschheit, unser 
Prometheuserbe, kennen sie nicht. Einsam 
und wild und dumpf und traurig, schon zu 
Lebzeiten der Scholle pflichtig, die sie ein- 
mal aufnehmen wird, wandeln sie über ihrem 
Grabe. Sie sind Kinder des Fatums. Und 
eben weil sie der Natur unweigerlich an- 
gehören, deshalb vernehmen sie ihre Stimme 
unmittelbarer und eindringlicher und haben 
plötzliche Offenbarungen, wie kein anderes 
Volk sie haben kann. Seltsam ergreifend, 

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fremd und todestraurig sehen ihre besten 
Werke uns an. 



*9 

DIE INTERPUNKTIONEN. Die Inter- 
punktionen sind kleine, höchst charakteristi- 
sche Merkmale für den Geist eines Volkes. 
Der Germane setzt sie bei den logischen, 
der Romane bei den rhetorischen Einschnit- 
ten So unterscheiden sich gleich die Denker- 
und die Rednervölker. Nichts ist schwieriger 
an einer fremden Sprache zu erlernen, als 
die Interpunktion, es heißt, dabei aus der 
eigenen Seele heraus in die Seele einer 
fremden Rasse fahren. Der Franzose, der 
Italiener stellt gewiß sein Komma immer da- 
hin, wohin wir es nicht stellen möchten. 
Sein Absetzen bedeutet eine kleine Pause 
zur vermehrten Eindringlichkeit und oratori- 
schen Wirksamkeit, das unsrige bedeutet eine 
gedankliche Gliederung. 

UMGANGSFORMEN. Je mehr natür- 
liches Formgefühl einer Nation innewohnt, 

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desto weniger bedarf sie der Formalität und 
Etikette. Aus den Umgangsformen, die den 
südlichen Völkern wie ein leichtfließendes 
und anmutiges Gewand am Leibe sitzen, 
haben die nordischen einen starren Panzer 
gemacht, der sie an jeder natürlichen Be- 
wegung hemmt. 

DER MENSCH UND DIE LAND- 
SCHAFT. Die deutsche Landschaft haucht 
eine Innigkeit und zärtliche Wehmut aus, 
die sich bis zur Zudringlichkeit ein- 
schmeichelt und das Gemüt verwöhnt. Sie 
trauert mit dem Trauernden, aber wie alle 
Mitleidigen steigert sie den Kummer, statt 
ihn zu heben. — In Italien ruht die Natur 
wie eingeschlossen in ihrer eigenen Schön- 
heit, sie lächelt göttlich unbekümmert und 
weist die Vertraulichkeit des Menschen zu- 
rück. Ein Betrübter kann ihr sein Leid nicht 
klagen, weil sie ihn gar nicht anhört, so ge- 
wöhnt sie ihm allmählich durch ihr sonniges 
Lächeln die Schwermut ab. Wenn sie Stim- 
mung ausdrückt, so ist es eine erhabene, 

169 



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SH 






feierliche. Römische Cypressen steigen über 
den Trümmern einer untergegangenen Welt 
wie ein Requiem zum Himmel auf und 
heißen alle persönliche Empfindsamkeit 
schweigen. 

Die italienische Luft hat dieselbe Eigen- 
schaft wie Glas und Wasser: sie verschönt 
die Gegenstände, sie reinigt, sie idealisiert. 
Zugleich gibt sie ihnen eine körperlose Un- 
wirklichkeit, die nur das Auge anregt und 
das Gemüt völlig stille läßt. 

** 

Die Jahrhunderte der hohen Kultur haben 
auch an der geistigen Physiognomie der 
italienischen Landschaft gearbeitet. Die 
schönen Linien der Hügel mit den sanft an- 
steigenden Cypressenreihen, den glücklich 
verteilten Piniengruppen und den Land- 
häusern, die aus der Formation des Terrains 
organisch herausgewachsen scheinen, haben 
etwas Vergeistigtes, wie ein schönes Gesicht, 

170 



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das durch reiche innere Erlebnisse ver- 
edelt ist. 

Sobald man den italienischen Boden be- 
tritt, fühlt man sich vornehmer; es ist, als 
sei eine Standeserhöhung mit uns vorgegan- 
gen. Wie genießt man schon das aristokra- 
tische Glück der großen Räume, der Treppen 
und Hallen. Sich nicht im Raum beschränkt 
sehen ist ein adliges Vorrecht. Selbst der 
Bettler, der auf den breiten Stufen, den mäch- 
tigen Bänken der alten Palazzi lungert, hat 
daran Teil, wie an all den schönen Dingen, 
die man genießt, ohne dafür zu zahlen; es 
gibt ihm seine königliche Haltung. Auch 
das Klima trägt zu diesem Gefühl des Stol- 
zes bei : man bringt nicht so oft durchweichte, 
schmutzige Kleider nach Hause, man fühlt 
sich nicht durch schwere Klumpen Kot an 
den Stiefeln erschöpft und degradiert. 

•s 



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❖ VOM o 
GENIUS 



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Der Genius wandelt, wie die Gottheit, 
unsichtbar auf Erden. Auch der stumpfste 
Philister kennt augenblicklich das Talent, wo 
es ihm entgegentritt, mit dem Genie aber 
könnte er, wie im Märchen der Schwabe 
mit dem lieben Gott, auf die längste Wander- 
schaft ziehen, ohne zu bemerken, wen er 
neben sich hat. Nur insofern, als dem Genie 
auch noch ein sehr großes Talent eigen ist, 
erobert es sich dennoch seinen Platz, wird 
aber dann mit anderen Talenten beständig 
verwechselt und höchstens gradweise von 
ihnen unterschieden. Der Genius selber 
bleibt nach wie vor unerkannt, ihn zu er- 
kennen hat der Alltagsmensch überhaupt 
kein Organ. Nur so kann man sich die un- 
geheuerlichen Nebeneinanderstellungen er- 
klären, denen man täglich im Munde von 
„sehr gebildeten Leuten“ begegnet. 

** 

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Das Genie zeigt sich nicht im Ausdenken 
des Unerhörten, nie Dagewesenen, sondern 
daran, daß das Alte, Abgeblaßte, von ihm be- 
rührt, auf einmal wieder ganz frisch und 
neu wird. 



Kennzeichen des Genies ist sein unwider- 
stehlicher Wahrheitsdrang. Es ist wahr, weil 
es gar nicht anders kann, weil sein ganzes 
Sein im Anschauen der Grundwahrheiten be- 
steht. Alles Flunkern, Vertuschen, Aus- 
weichen ist ihm seiner Natur nach unmög- 
lich. Sobald ein Künstler, und sei er noch 
so begabt, dem äußeren Effekt eine der 
ewigen Wahrheiten opfert, hat er sich selber 
ein untrügliches Rangzeugnis ausgestellt. 

Genialität ist ein besonderes, angeborenes 
Verhältnis zur Natur, wodurch ein Sterb- 
licher die kürzesten Wege zu ihr findet. Es 
ist zunächst nur ein Zustand, der auch latent 
bleiben kann und es oft genug bleibt, denn 
er ist gar nicht immer mit einem starken 

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Schaffenstrieb gepaart, und es könnte sehr 
wohl einen genialen Dichter geben, der sich 
sein Leben lang mit dem Lauschen auf die 
inneren Stimmen begnügt und nur zuweilen 
in seinem Entzücken ein paar Worte nach- 
gestammelt hätte, ohne sich dem Zwang des 
wirklichen Schaffens zu unterziehen. Von 
dieser Art sind vielleicht die Dichter unserer 
schönsten Volkslieder gewesen. 

Andererseits bringt auch der Genius, der 
vom größten Schaffenstrieb beseelt ist, nicht 
immer ein Geniewerk hervor. Was man ganz 
eigentlich so nennt, das sind jene Werke, 
deren Guß so rasch, so feurig, so einig ist, 
daß ihre Fehler nicht auszumerzen sind, weil 
sie mit dem Besten darin ein untrennbares 
Ganzes bilden. Um sie zu schaffen, bedarf 
er eines Stoffes, der sich seiner mit Gewalt 
bemächtigt und eines besonders günstigen 
Planetenstandes, durch den von allen Seiten 
unsichtbare Mitschöpfer heranschießen, denn 
dem Geniewerk hängt immer etwas Dämoni- 
sches an. Derselbe Dichter schafft zu einer 
anderen, minder schicksalsvollen Stunde ein 
anderes Werk, das vielleicht als Arbeit voll- 

177 ia 



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kommener ist, weil er es überlegt und durch- 
gefeilt hat, das aber nicht mit diesem höch- 
sten Stempel gezeichnet ist. Das Geniewerk 
kennt man an dem unwiderstehlichen Glanz, 
den es noch nach Jahrhunderten ausströmt. 

Die Früchte der Glücksstunde sind, wie 
Kinder der Liebe, schöner, stärker, eigen- 
williger, erregen mehr Bewunderung und 
Tadel und werden von den Erzeugern mehr 
geliebt, als die Kinder, die aus ihrem täg- 
lichen Verkehr mit der Muse entsprossen 
sind. ^ 

Der Witz, der der gerade Widerpart der 
Poesie ist, hat das mit ihr gemein, daß er 
zuweilen Eingebungen beschert, die über den 
Horizont des Individuums gehen. Es können 
sogar aus dem Munde von Kindern mark- 
erschütternde Witze kommen, von deren 
Tragweite diese nichts ahnen. Sie stehen 
mit unschuldigem Lächeln da, während der 
schlimmste Kobold aus ihnen herausredet. 
Also ist auch der Witz keine bloße Talent- 
sache, sondern gehört der Sphäre des Dämo- 
nischen, oder Genialen an, wie man es nennen 
will. ^ 

178 



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Um das Schöne zu schaffen, muß man 
das Wahre kennen. 



W 

Der Prozeß des dichterischen Schaffens 
ist keine Handlung, sondern ein Vorgang. 
Der Dichter kann mit seinem Willen nichts 
dabei tun, als äußerliche Hindernisse weg- 
räumen. Die Phantasie trägt ihn ohne sein 
Zutun in ihre Lande, sein Verstand hat dabei 
kein anderes Geschäft, als hie und da den 
Radschuh zu brauchen. Der Genius, der un- 
bewußte, lenkt den Wagen; stört man ihn, 
so entflieht er, und will man den Wagen 
ohne ihn weiter führen, so kommen kleine 
Kobolde und führen ihn in den Sumpf. Das 
sind die eigentlichen Verstandesgeisterchen, 
die in diesem Reviere nichts zu suchen 
haben. 

?? 

x8i 



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Der Dichter kommt mit dem ganzen Er- 
fahrungsschatz der Menschheit zur Welt. 

Das schaffende Prinzip ist immer das- 
selbe, ob es sich über die ganze Erde aus- 
breitet oder sich zu einem kleinen Punkt 
zusammenzieht. So auch der Dichter. Ob 
sein Stoff groß oder klein, tut nichts zur 
Sache, es fragt sich nur, ob im Kleinen das 
Große enthalten ist. Die Einheit der Dinge 
muß durchscheinen. 

Die schönen Dinge liegen mehr an der 
Oberfläche, als man glauben sollte. Es 
braucht die feine und leichte Hand der 
Glücksstunde, um sie zu heben. Bei zu 
großer Mühe gräbt man leicht zu tief und 
bohrt eine falsche Schicht an. 

Poetische Wahrheit ist die unwillkürliche 
Auslese und Verschmelzung vieler Wirklich- 
keiten mittels der Phantasie. 

** 

182 



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Jeder Stoff, der von der Poesie berührt 
wird, verwandelt sich aus dem Einmaligen 
ins Absolute. Die Todtenklage, die dem ge- 
schiedenen Freund gedichtet wurde, gilt be- 
reits dem Freund nicht mehr, sondern allen 
Gestorbenen und allen, die noch sterben wer- 
den. Daher die Allgültigkeit und Allverständ- 
lichkeit der Poesie. Aber das Individuelle 
muß die Wurzel sein, aus der das Typische 
herauswächst, sonst erscheint das ganze Ge- 
wächse als ein künstliches. 

r* 

Alles Erlebte ist so vieldeutig, daß dem 
Dichter sein eigenes Lebensschicksal genügt, 
um alle erdenklichen Lebensgeschicke dar- 
aus zu formen. 

Aber nicht auf die Menge der äußeren 
Ereignisse kommt es an, sondern was einer 
innerlich davon aufnimmt. Es gibt Leute, 
die essen und immer essen, aber es schlägt 
nicht an, sie bleiben dabei spindeldürr. Eben- 
so ist es mit der Psyche auch. Es kann einer 
die Erde umschiffen, um etwas zu erleben, 
und doch mit leeren Händen zurückkommen, 

183 



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wenn ein anderer einen Spaziergang über die 
Hügel macht und neue Welten nach Hause 
bringt. 

Der Dilettant steigert sich gern in eine 
dumpfe Begeisterung hinein und springt 
kopfüber in die Wogen der Sprache, ohne 
einen Schwimmgürtel mitzunehmen, der ihn 
über Wasser hielte. 

** 

Immer spricht der Dilettant den Künstler 
als Bruder an. Der Künstler mag sich dies 
ruhig gefallen lassen — er hat keine Pflicht 
der Aufrichtigkeit gegen ihn. 

** 

Manche dichterischen Erzeugnisse haben 
uns, so lange sie neu waren, zur Bewunde- 
rung hingerissen, aber als wir sie zehn Jahre 
später wieder hervorholten, sahen wir mit 
Schrecken, daß ihre Haut bereits zu schrump- 
fen begonnen hatte. Abermals zehn Jahre, 
und wir können sie gar nicht mehr zur Hand 
nehmen, so welk und runzlig sind sie unter- 
dessen geworden. 



184 



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SS 






5Sffl 



Es sind die Hoffräulein des Rübezahl, 
die einen Tag lang im Sonnenlicht mit der 
Prinzessin lachen und spielen und von ihr 
für lebendige Wesen gehalten werden, wenn 
aber der Abend kommt, so liegen sie tot 
und eingeschrumpft als welke Rüben da. 

W 

TENDENZ. Der Dichter hat gar nicht 
nötig, sich ernsthaft mit den Vorurteilen her- 
umzuschlagen. Das macht viele der nordi- 
schen Schriftsteller so schwerfällig und un- 
genießbar für feinere und freiere Geister, 
denen ihre Probleme gar keine Probleme 
mehr sind. 

Der echte Künstler nimmt getrost den 
Sieg einer lichteren und höheren Weltan- 
schauung voraus, und auf diesem Boden, 
den er nicht mehr zu erobern braucht, der 
sein ist, steht er gelassen und lächelnd. 
An den Tageskämpfen braucht er schon des- 
halb keinen Teil zu haben, weil ihre Fragen 
für ihn seit Jahrhunderten abgetan sind. 

Warum ein Dichter immer zur Öffent- 
lichkeit reden muß und mit einem einzelnen 



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noch so liebevollen Hörer nicht zufrieden 
sein kann? Weil ein Kunstwerk zahlloser 
Deutungen fähig ist, und darum von dem 
Einzelnen nicht ausgeschöpft wird. Ein 
Werk, das nicht in die Allgemeinheit ge- 
drungen ist, hat nie existiert. Unter Allge- 
meinheit verstehe ich aber nicht die große 
Herde, die das Abc gelernt hat, sondern die 
Allgemeinheit der Denkenden, die zusammen 
einen ganzen Menschen bilden. Ein einzelner, 
und sei er noch so geistesstark, ist in diesem 
Sinne niemals ein ganzer Mensch, was jeder 
Künstler mir zugestehen wird, wenn er sich 
sein edelstes Publikum im einzelnen ver- 
gegenwärtigt: dem einen fehlt der bildliche 
Sinn, dem anderen das Ohr für den Rhyth- 
mus, dem dritten das Organ für den Naturlaut, 
und so herunter in die feinsten Schattierun- 
gen, daß der Schöpfer des Werkes sich von 
keinem einzelnen völlig verstanden fühlt, und 
natürlich desto weniger, je reicher und tiefer 
sein Werk. 

** 

Der Deutsche legt im Grunde gar keinen 
Wert auf das Talent. Ihm kommt es vor 

1S6 



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allem auf die Gesinnung an. Man lese nur 
die Kritik einer Dichtung in den Tages- 
blättern. Da gibt sich der Rezensent saure 
Mühe, den Charakter des Dichters und seine 
Anschauungen in bezug auf Religion, Moral, 
soziale Fragen und Gott weiß was alles zu 
ergründen. Hat er glücklich einen Ausspruch 
entdeckt, der ihm auf irgend eine der ihm 
bekannten Kategorien zu deuten scheint, so 
nimmt er seinen Mann beim Schopf und 
bringt ihn flugs in der betreffenden Rubrik 
unter, ohne zu bemerken, daß er ein paar 
Seiten später vielleicht ebenso gut zu dem 
gegenteiligen Resultat kommen könnte. Es 
wird wohl mehr als ein Autor gestaunt haben, 
wenn er sich plötzlich wie ein Schmetterling 
auf einem Stück Papier mit der Nadel im 
Rücken aufgespießt und klassifiziert fand. 
Denn in der Natur des Dichters, wie in der 
der Menschheit liegen die Widersprüche bei- 
sammen, weil er in allem ist und alles in 
ihm, daher er als ein Proteus in allen Le- 
bensformen sich bewegen kann und muß. 
Der Dichter ist zugleich Christ und Heide, 
Zweifler und Gläubiger, Bekenner aller Re- 














ligionen und keiner, ein Kind der elementaren 
Volkskraft und der aristokratischen Verfeine- 
rung, Freund des Starken und Beschützer 
des Schwachen, Verkünder der rücksichts- 
losen Gewalt und der heiligen Sympathie. 
Er kann sich im selben Augenblick für das 
übermenschliche Genie Napoleons und für 
das menschliche Heldentum der Befreiungs- 
kriege begeistern. Ihn entzückt der heilige 
Zorn Luthers und die geistreich überlegene 
Indifferenz Leos X. ebenfalls. Das alles ge- 
hört zu den Grundbedingungen seines We- 
sens, die ihm ohne weiteres zugestanden 
werden müssen, die die Kritik gar nicht im 
einzelnen herauszuklauben braucht. Sie hat 
sich nur mit der Form zu befassen, unter 
der sein Wesen jeweils in Erscheinung tritt. 
Aber gerade das, was vor seinen Augen liegt, 
die Gestaltung, übersieht der Kritiker ge- 
wöhnlich ganz. Redet ei je von Form, so 
meint er immer die äußere, wohl gar die 
metrische, und die — versteht er meistens 
erst recht nicht. 



188 



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ROMAN UND NOVELLE. Viele glau- 
ben, daß die Novelle ein kurzer Roman, 
der Roman eine lange Novelle sei. Das ist 
grundfalsch. Der Ursprung der Novelle ist 
die Anekdote, wie man bei Bocaccio noch 
deutlich sieht Die Novelle darf ihre ein- 
fache anekdotische Grundform nicht ver- 
leugnen, sonst wirkt sie leicht kleinlich. Man 
muß den mündlichen Erzähler noch durch- 
fühlen, das erhält ihr die Frische und den 
ursprünglichen Reiz. Mit hinreißender Mei- 
sterschaft hat dies Maupassant durchgeführt. 
Um die Anekdote recht deutlich durchfühlen 
zu lassen, erzählt er zumeist in erster Per- 
son oder legt die Geschichte einem fingierten 
dritten in den Mund, hinter dem er selbst 
versteckt ist. Dieses Vorschieben des münd- 
lichen Erzählers macht die Handlung kon- 
zentrierter und alle Darstellung lebendiger. 
Naturgemäß muß er aus diesem Grunde die 
langen Dialoge vermeiden, in direkter Rede 
gesprochen wird bei ihm bloß das unmittel- 
bar zur Handlung Gehörige und was zu- 
gleich den Sprechenden charakterisiert. Es 
war ein Unfug der verflossenen Dichter- 

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schulen, aus der Novelle einen kleinen Ro- 
man mit eingeschalteten Episoden und end- 
losen dramatischen Dialogen zu machen, die 
häufig gar wie im Drama die Exposition 
zu übernehmen hatten, was die eigentliche 
Form der Novelle ganz verwischte. 

Der Ursprung des Romans ist im Epos, 
in der Rhapsodie, daher sein völlig anderer 
Charakter. Der Rhapsode trug nicht das 
Selbsterlebte und -gehörte, sondern etwas 
Gedichtetes und auswendig Gelerntes vor. 
Dadurch waren die breiten Episoden, die 
langen Dialoge und die Freiheit der An- 
ordnung möglich. Das Epos rollt ein großes, 
verschlungenes Teppichmuster auf, in dem 
die verschiedensten Fäden durcheinander 
laufen, der mündliche Übermittler hätte die 
ganze Ordnung nicht übersehen können, wäre 
nicht jedes einzelne Teilchen genau fixiert 
gewesen. Der Rhapsode hatte zu seinem 
Vortrag nicht einmal die Reihenfolge nötig, 
er konnte einzelne Gesänge herausnehmen 
und für sich vortragen. Diese epische Grund- 
form ist dem Roman verblieben, und es ist 
angenehm, sie durchzufühlen. Selbst die Ein- 

xgo 



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teilung in Kapitel, die der Einteilung des 
Epos in Gesänge entspricht, ist dem Leser, 
wie einst dem Hörer, eine Wohltat und als 
Ruhepause höchst wünschenswert. Aus den 
besten Romanen, wie zum Beispiel den „Pro- 
messi sposi“, kann man ebenso gut wie aus 
den alten Epen ein einzelnes Kapitel heraus- 
nehmen und für sich genießen. 

** 

Die katholische Kirche, die für die bilden- 
den Künste so fördernd war, ist es keines- 
wegs für die Poesie. Shakespeare und Goethe 
konnten nur protestantischen Ländern ent- 
stammen, sie brauchten zu ihrer Entwick- 
lung ungehemmte Geistesfreiheit und weite- 
ste Menschlichkeit. Wie eng und unfrei 
steht daneben Dante mit all seiner Titanen- 
größe. Selbst bei dem edelsten Dichter des 
neueren Italiens, bei Manzoni, weht nicht die 
reine Bergluft der germanischen Dichter, man 
fühlt eine katholische, nicht eine menschliche 
Moral. Bei der Poesie der lateinischen Völ- 
ker wird einem nur da von Herzen wohl, 
wo sie im Heidentum wurzelt. 

« 

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In einem Tyrannenstaat können wohl 
große Künstler heranwachsen, aber keine 
großen Dichter, denn der Dichter muß die 
Wahrheit sagen können oder was er dafür 
hält. Darum brachte die italienische Re- 
naissance nur Höflingspoesie hervor. Die 
damaligen Dichter konnten nicht einmal aus- 
wandern, denn in der Fremde waren sie 
Bettler. 

W 

VON SHAKESPEARE. Die Schöpfun- 
gen des großen Unbekannten geben, wie die 
der Natur, immer neue Rätsel auf. Jede Ge- 
neration sucht sie mit den ihr eigenen psy- 
chologischen Werkzeugen zu lösen. Denn 
seine Charaktere sind kompliziert wie 
lebende Menschen, voll von Widersprüchen, 
Unerklärlichkeiten, Lücken, Zweckwidrig- 
keiten. So ist Hamlets verstellter philoso- 
phierender Wahnsinn dem, was er bezweckt, 
eigentlich entgegen. Er zieht damit die Auf- 
merksamkeit auf sich, statt sie abzulenken; 
um den König zu täuschen, hätte er ge- 
dankenlose Fröhlichkeit heucheln müssen. 

IQ2 



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Jeder rechnende Dichter hätte ihn so ge- 
zeichnet, aber Shakespeare fand im Stoff 
schon die Verkehrtheit vor und nahm sie 
ruhig in sein Werk herüber, denn Verkehrtes 
gehört zur Menschennatur. Daher wickelt 
das ganze Stück sich ab wie ein Traum, 
in dem immer das Unerwartete, Wider- 
sinnige geschieht und wo dennoch alles einen 
tiefen Sinn hat, freilich einen Sinn, der erst 
beim Erwachen ausgelegt wird. Um die Her- 
stellung logischer Charaktere kümmert Sha- 
kespeare sich so wenig, wie die Natur selber, 
und unüberlegt, selbstverständlich fließen die 
menschlichen Elemente, das heißt die Wider- 
sprüche, in seine Schöpfung hinein. 

Shakespeare zerstört lieber den äußeren 
Zusammenhang einer Figur, als daß er um 
seinetwillen einen Zug unterdrückte, der 
typisch ist. Die Gräfin Capulet fühlt sich 
durch den Tod der Tochter an ihr hohes 
Alter erinnert, während man nach ihren 
eigenen früheren Angaben ihr Alter auf 
etwa 28 Jahre berechnen muß. Der Dich- 
ter will in dem Schmerz der Mutter allen 

193 13 



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Elternschmerz zeichnen, und dazu braucht 
er, um stark zu wirken, die hohen Jahre. 
Das wirkliche Alter der Gräfin ist ihm dabei 
etwas Äußerliches, Unwichtiges. Und sollte 
das auch nur Vergeßlichkeit sein, so wäre 
diese Vergeßlichkeit schon sehr bedeutsam. 
Die wirkliche Gräfin Capulet könnte noch 
einen Haufen Kinder bekommen und 
brauchte darum nicht zu verzweifeln. Aber 
schon ist dem Dichter der Einzelfall gleich- 
gültig geworden, und er läßt ihn hier am 
Schluß der Tragödie, wo die Wogen am 
höchsten gehen, von der Flut des Allge- 
meinen, Ewig - Menschlichen verschlungen 
werden. 

Ebenso wenig scheut er sich, der stär- 
keren Wirkung zu liebe seine Personen so 
reden zu lassen, wie sie, menschlich ge- 
nommen, aus ihrer Haut heraus im Augen- 
blick gar nicht reden könnten. Julia, in ihrem 
Erwartungsmonolog, redet über die Un- 
schuld, die in allem ist, was Liebe tut — 
aber die Unschuld denkt nicht über sich 
selber nach, und eine wirkliche Julia könnte 

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solche Dinge erst Jahre später in der Er- 
innerung an diese Nacht sagen. Sie geht da- 
bei aber nicht, wie es den Schillerschen Fi- 
guren häufig zustößt, über ihre eigene Per- 
sönlichkeit, sondern nur über ihren augen- 
blicklichen Zustand hinaus. Darum wirken 
ihre Worte auch nicht als unwahr, denn die 
Geschöpfe der Poesie haben ein anderes Ge- 
setz, als die des Lebens. Da sie in einer 
idealen Zeit stehen, können sie die eigenen 
künftigen Erkenntnisse vorausnehmen. 

HAMLET UND ORESTES. Hamlet ist 
der Spiegel des modernen, komplizierten, 
nordischen Menschen. Solcher Charaktere 
hat die Muse des Nordens noch mehrere Um- 
rissen, die nur ihres Shakespeare harren, zum 
Beispiel den „Held Vonved“ der dänischen 
Ballade und den Gunnlaug Schlangenzunge 
der isländischen Saga. Auch bei ihnen ist 
das Gleichgewicht gestört durch das Über- 
wiegen der inneren Hemmungen, die zu 
einer tragischen Schicksalsmacht werden : der 
düstere Vonved, der über seine eigenen Rät- 

195 » 3 * 



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sei nicht wegkommt, und der schlagfertige 
Gunnlaug, der dennoch nirgends fertig wer- 
den kann, sind Hamlets leibliche Brüder. 
Bei Hamlet liegt die Hemmung eigentlich 
in der Beweglichkeit des Geistes, der die 
Vorstellung des Verbrechens nicht in völliger 
unmittelbarer Deutlichkeit festhält, daher die 
Zweifel, das Ausweichen, die Entschuldigun- 
gen vor sich selbst, die Gedankenflucht, in 
die er sich absichtlich stürzt, um auszuruhen. 
Wäre er Zeuge des Verbrechens gewesen, 
so hätte er wie ein Wetterstrahl den Schul- 
digen getroffen, denn daß er handeln kann, 
so gut wie seine beiden nordischen Brüder, 
beweist er durch das ganze Stück, sobald 
etwas Gegenwärtiges ihn ■ aufregt. Das 
Rascheln hinter der Tür genügt ihm schon 
dazu. Die Aufführung des Schauspiels da- 
gegen hat diese Macht nicht, sie gibt zwar 
die ersehnte geistige Gewißheit, aber die 
Phantasie ist doch nicht stark genug, um 
den dargestellten Mord mit dem wirklich 
begangenen zu identifizieren. Es braucht 
die Realität des Giftbechers, um endlich den 
Blitz der Tat zu entzünden. 

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Wie anders ist dagegen Orest, der ein- 
fache antike Mensch. Als Kind von Hause 
entrückt, wächst er fern vom Ort der Misse- 
tat auf. Agamemnon, das Netz, das Beil 
können für ihn nur eine Sage sein, so sollte 
man nach heutiger Denkweise meinen. Hat 
er Kindheitserinnerungen, so müssen sie ihm 
die einst liebende und zärtliche Mutter zu- 
rückrufen. Das dauernde Leiden der Schwe- 
ster hat er nicht mit angesehen. Den lange 
abwesenden Vater hatte er kaum gekannt. 
Lange Jahre sind seit der Tat verflossen; 
für einen Menschen von heute wäre Gras 
darüber gewachsen. Nun erscheint er, ganz 
in seine Rachepflicht wie in einen ehernen 
Panzer eingehüllt. Als wäre es gestern ge- 
schehen. Agamemnons Blut, das heilige, 
klebt für ihn noch an der Schwelle, und 
unbedenklich, unbarmherzig vollzieht er das 
Gericht. Das ist antike Art. Orest ist die 
verkörperte Rache, die unauslöschliche Er- 
innerung einfacher Naturen, über die die Zeit 
keine Macht hat. Solche Menschen leben 
sogar heute noch, an einsamen Orten, wo 
die Tage nichts Neues bringen, wo man 

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weder lesen noch schreiben kann, besonders 
auf italienischen Inseln, wie denn überhaupt 
der einzige Anhaltspunkt sich den Griechen 
wenigstens von ferne noch vorzustellen, der 
Italiener ist. Hamlet, der in Wittenberg stu- 
diert hat, der über Sein und Nichtsein philo- 
sophiert, kann kein Rächer sein, es schieben 
sich ihm zu viele Gedankenreihen da- 
zwischen. Und doch sind seit dem Tode 
seines Vaters erst zwei Monate verflossen. 
Aber zwei Monate können für den zerstreuten, 
grübelnden Geist des modernen Menschen 
zwei Jahrhunderte bedeuten. 

MEISTERWERKE IM WANDEL DER 
ZEIT. Es ist frappierend zu sehen, wie auch 
die großen Meisterwerke der Literatur mit 
der Zeit ihr Gesicht verändern. Vamhagen 
schreibt einmal an Rahel, die Figuren im 
Wilhelm Meister seien so unendlich lebens- 
nah, ein Schritt weiter, und man stünde im 
Leben selbst. Nichts kann dem heutigen 
Leser fremder sein, als dieses Urteil. Für 
uns sind die Figuren so lebensfern, so sehr 

198 



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in eine andere Sprache übersetzt, durch- 
geistigt und durchscheinend von der Idee, 
daß das körperliche Gewand, das sie ein- 
hüllen soll, fast ganz geschwunden scheint. 
Man kann sie nicht leibhaft sehen, sie er- 
innern an keinen Lebendigen mehr. Hat 
uns der neuere Roman an eine so viel 
größere Lebensnähe gewöhnt? Oder sind es 
ausgestorbene Typen ? Vielleicht beides. 
So viel ist sicher: ich kenne persönlich nicht 
einen mehr, Philine ausgenommen und ein 
paar Unterfiguren, auch die nur, wenn ich 
meine Kindheitserinnerungen zu Hilfe 
nehme. Heute hätte auch Philine ein anderes 
Gesicht. Solch gutmütigen Flattersinn ohne 
alle Berechnung gibt es nicht mehr. Auch 
die Aurelien sind ausgestorben, nicht zu 
unserem Schaden. Diese Aurelie muß ein- 
mal sehr wahr gewesen sein, ich erinnere 
mich noch dunkel solcher Gestalten, solcher 
ewig klagenden, von Erinnerungen verzehr- 
ten, sie ins Schaufenster legenden. Heute weiß 
eine Verlassene, daß sie mit Klagen den 
Freunden im besten Falle lästig fiele und 
auch von ihnen in den Winkel gestellt würde, 

199 



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M 



wahrscheinlicher noch zöge sie sich Spott 
und Schadenfreude zu. Deshalb nimmt man 
sich jetzt in solchen Fällen zusammen. Aber 
damals gefielen die Seelenergüsse, man sah 
gern die zuckenden Herzfasern bloßgelegt 
und zwang sich mitzufühlen, fühlte wohl 
auch wirklich mit. Welch ein festes und 
hartes Geschlecht sind wir neben diesen Ge- 
fühlsschwelgern. Wir bergen unsere Emp- 
findungen hinter einer Eisrinde, wo sie frei- 
lich allmählich erstarren. 

Serlo kann ich noch wie im Nebel wahr- 
nehmen. Lothario, Natalie, Therese sind 
völlig zu Schemen geworden wie viele an- 
dere, eine ausgestorbene Welt. Der Harfner 
und Mignon hatten niemals Blut in den Adern, 
sie sind ein Stück blässester Romantik. 
Die Mignon ins Lebendige übersetzt heißt 
Meretlein. Kurz, das Leben ists gerade, was 
ich gar nicht in dem Buche finden kann, 
nur eine aus der Zeit gezogene Quintessenz 
des Lebens, bis zur Entkörperlichung destil- 
liert. Die höchste, göttlichste Weisheit eines 
Sehers und Beichtvaters. 

W 

200 



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Nur die Griechen und Shakespeare mit 
wenigen anderen verändern ihre Züge nicht. 
„Nothing in you that doth fade“. Ihre Gren- 
zen sind 5so weit, daß jede neue Kulturperiode 
darin Raum hat. 

/ 

?? 

Indeß wer weiß? Vielleicht werden in 
ferner, ferner Zeit auch Shakespeare und 
der Faust einmal sterben, wie Dante gewiß- 
lich sterben wird. Alle Dichter der neueren 
Ära tragen wie ein Muttermal einen Punkt 
an sich, der sie als Kinder ihrer Zeit be- 
zeichnet. Dieser Punkt hat sie einst ihrer 
Zeit zugänglich gemacht, er ist es auch, wo 
sie sterblich sind, wo die Wasser des Styx 
sie nicht berührt haben. Von da aus kann 
das Welken und die Vergänglichkeit über 
sie kommen, die sie vielleicht einmal ganz 
noch verzehren. 

Es könnte zum Beispiel eine Zeit kom- 
men, wo man das Motiv des Othello, Rache 
für scheinbar beleidigte Gattenehre, gar nicht 
mehr verstände, weil man eingesehen hätte, 
daß Untreue der Gattin nichts mit der 

201 



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Ehre des Gatten, sondern einzig mit seinem 
Gefühl zu tun hat. Ja, ich bin überzeugt, 
wir hören schon heute den Othello mit etwas 
anderen Ohren an, als Shakespeares Zeit- 
genossen ihn hörten. Wir sehen in ihm nur 
den beklagenswerten, verblendeten Mör- 
der, nicht den übereilten Richter, und 
es braucht für eine feinere Seele schon die 
göttliche Kunst eines Salvini, um die wider- 
wärtige Vorstellung des angemaßten Richter- 
amts über dem tragischen Mitleid zu ver- 
gessen. Je mehr der tragische Dichter seine 
Stoffe aus der Welt der Konventionen wählt, 
statt aus der Natur, auf desto mehr Punkten 
ist er der Vergänglichkeit ausgesetzt. 

Die großen Griechen allein sind frei von 
allen Malen der Sterblichkeit geblieben. 

¥9 

VON DER GRIECHISCHEN TRAGÖ- 
DIE. Im griechischen Drama staunen wir 
nicht mehr die Schöpfung einzelner Dichter, 
sondern das fleckenlose Werk einer ganzen 
Kultur, die angesammelte Kraft und den Adel 

des gesamten Griechenvolkes an. Darum 

* 

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sind die wenigen erhaltenen Werke des 
Aeschylos wahrer und größer, als die Shake- 
speareschen, die neben diesen Werken der 
Notwendigkeit wie das Werk individueller 
Willkür erscheinen. Wer kann unmittelbar 
nach dem Agamemnon oder den Persern ein 
Shakespearestück lesen, ohne das barbari- 
sche, barocke und wüste, was es notgedrun- 
gen mitführt, als wilde Phantasterei zu emp- 
finden ? 

Man denke sich aber auch das Publikum 
des Aeschylos. Nicht nach staubiger Tages- 
arbeit müde und sensationsbedürftig, nicht 
um die stumpfen Nerven wieder anzuregen, 
wozu das gröbste Mittel das beste ist, nicht 
des Abends in überhitzter Luft bei künst- 
lichem Licht und falschem Flitterputz, son- 
dern am hellen Tageslicht im Grünen, mit 
dem Blick auf Meer und Berge, an den 
höchsten Fest- und Weihetagen des Landes 
kommt das höchste, feinste, genialste und 
kultivierteste Volk der Erde, um über die 
Werke seiner großen Dichter zu richten, 
deren Stoff einem jeden geläufig ist. Da 
gibt es keine grobe Spannung, den Ausgang 

203 



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kennt ein jeder, nur auf das Wie, auf das 
wahrhaft Poetische ist der Sinn gerichtet. 
Auch der Sinnenkitzel ist ausgeschlossen, 
die Tragödie als Staatsangelegenheit hat 
nicht nötig, einem zahlenden Publikum zu 
schmeicheln. So schreiten die überlebens- 
großen und überlebenswahren Gestalten als 
das Ewigmenschliche, Allverständliche über 
die Bühne, begleitet von Gesang und Tanz, 
die für ihre symbolische Würde Zeugnis ab- 
legen. 

Wird ein Werk wie Die Perser je- 
mals wieder geschaffen werden? Ein Stück 
aus der Tagesgeschichte, noch vibrierend 
von der Erschütterung des Selbsterlebten 
und doch schon vom Licht der Ewigkeit 
durchleuchtet. Von einem Salamiskämpfer 
geschrieben und aufgeführt vor den Vete- 
ranen von Salamis und vor den Jünglingen, 
die jene großen Tage wenigstens noch vom 
Hörensagen kannten. 

Ehrfurcht erfaßt uns, nicht vor dem Dich- 
ter, sondern vor dem Volk, dem der Dichter 
dieses Geschenk bieten durfte, denn es ist 
die Sache des besiegten Feindes, die hier 

204 



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vom tragischen Mitleid verklärt wird. Der 
Tragiker macht von dem höchsten Dichter- 
recht Gebrauch, für den „überwundenen 
Mann“ zu zeugen, und mit welcher Weihe 
umgibt er die Gefallenen, welche Gerechtig- 
keit läßt er dem Besiegten widerfahren, mit 
welchen Ehren sind die Häupter der Un- 
glückseligen umkränzt, die „das Antlitz gen 
Athen“ von den spöttischen Wellen dem 
Strande von Salamis zugewälzt werden. Und 
die Züge dieser Gesichter waren den Zu- 
schauern noch bekannt, sie waren noch vor 
kurzem das Schreckgespenst griechischer 
Mütter gewesen! 

Man unterbreche einen Augenblick 
dieses Bild durch ein anderes. Man denke 
sich einen deutschen Aeschylos, der in den 
Jahren, die auf den Siebziger Krieg folgten, 
auf einer deutschen Bühne dem über- 
wundenen Gegner solche Trauerehren hätte 
erweisen wollen, man male sich das Bild 
seines Empfangs vor einem deutschen Pu- 
blikum aus, um den ungeheuren, nicht aus- 
zudenkenden Abstand zu ermessen, der uns 
Heutige von den Hellenen, dem einzigen 




öffigsi sä* 









Kulturvolk, das jemals gelebt hat, trennt. — 
Ich führe mit Absicht nur die Deutschen 
an, denn die Deutschen sind, in ruhigen 
Zeiten, wenn das Gleichgewicht nicht 
schwankt, noch immerhin das einzige Volk, 
das einem anderen Volke gerecht werden 
kann. Aber der Grieche war der Kunst gegen- 
über immer im Gleichgewicht, er sah auch 
den Todfeind durch das Glas der Dichtung 
nur sub specie aeterni. 

Wie wohltuend ist es, daß in den Trauer- 
gesang der Besiegten kein trunkenes Tri- 
umphlied der Sieger hineintönt. Der hel- 
lenische Genius hätte dem Dichter diese 
grellen Kontraste verwehrt, wenn sie nicht 
schon durch die Beschränkung der Bühne 
unmöglich gewesen wären. Und von welcher 
Würde ist die Beschwörung des toten Darius I 
Feierliche Schauer, keine grassen Schrecken, 
schweben um die Gruft, die sich auftut, den 
Schatten des Königs zu entlassen. Gegen 
diese Größe gemessen, scheint der Geist im 
Hamlet mit seinem unterirdischen Ver- 
steckensspiel und Hamlets : „Brav, alter 

Maulwurf!“ plump und klein. Es ist wieder- 



206 



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um Sache eines ganzen Volks, nicht eine 
persönliche Angelegenheit, was den Toten 
ans Licht zwingt — nur die Beschwörung 
der toten Wala in der Edda, wo es sich 1 
um ein ganzes Weltgeschick handelt, geht 
darüber noch hinaus. Auf die Frage des 
Toten: „Unser Weg ist schwer — warum 
zwingt ihr mich zu kommen?“ folgt die 
schicksalsschwere Antwort: „Dein ganzes 

Reich ist vernichtet“, und die Klagen der 
Greise fallen ein: „Dein ganzes Heer! Die 
ganze Jugend! Alle, alle!“ Es ist wie ein 
Ozean von Jammerrufen, wo jede Welle auf- 
schreit: Alle! und ein langes Echo trägt es 
fort: Alle! Dein ganzes Volk, dein ganzes 
Heer, alle, alle deine Schiffe!“ 

Die herrlichste Schöpfung aber ist der 
Agamemnon. Er hat den vollkommensten 
Aufbau, die stärkste Wirksamkeit in der von 
Szene zu Szene sich steigernden Handlung 
bei den wundervollsten, die Phantasie zur 
Mitarbeit nötigenden Einzelheiten. Es ist ein 
unvergleichlicher Anfang, wie durch die Vor- 
stellung der sich fortpflanzenden Feuer- 
zeichen das Bild des ganzen Landes mit 



207 



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seinen Bergen und Meerbusen als ein un- 
endlich reicher Hintergrund auftaucht — die 
Poesie tut hier mit ihren eigensten Mitteln, 
was später Aufgabe des Tbeaterdekora- 
teurs wird — wie dann der Bote 
die Heimaterde küßt, und, nachdem, man 
aus dem Mund der Greise die Leiden 
der Daheimgebliebenen kennen gelernt, 
die Anschauung von der Not der Aus- 
gezogenen mitbringt. Und die Gestalt der 
Klytemnestra, so fein in ihrer Heuchelei, 
so königlich in ihrer Bosheit, daß man sie 
beinahe lieben muß. Das ist keine niedrige 
Verbrecherin, der Dichter, der sie so reich 
mit Schlechtigkeit ausstattet, hält ihr jeden 
Zug fern, der sie zum Zerrbild oder zum 
Ungeheuer machen könnte — nur in der 
Lady Macbeth hat diese dämonische Ge- 
stalt ihresgleichen gefunden. Dann Agamem- 
nons Empfang! Als höchste Symbolik die 
rote Bahn, auf der er ins Haus schreitet. 
Wie gewaltig mußte dieser rote Teppich, der 
sich plötzlich wie ein Blutstrom über die 
Szene verbreitet, auf die Phantasie der 
Wissenden wirken. Und wissend waren ja 

208 



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die Zuschauer alle, die Geschicke der Atriden 
lebten in jedem Herzen. — Goethe spricht 
einmal im Wilhelm Meister über die er- 
habene Wirkung des Symbolischen im 
Drama, wofür er als höchstes Beispiel die 
Wegnehmung der Krone vom Bett des ster- 
benden Königs in Heinrich IV. bezeichnet. 
Aber was will die Wegnehmung der Krone 
gegen die „rote Bahn“ des Atriden bedeuten ! 
— Und wie weise erdacht ist Agamemnons 
Weigerung, den Prachtteppich zu beschrei- 
ten, um nicht durch so triumphalen Ein- 
zug die Götter zu reizen: das Volk soll den 
König, den es gleich verlieren wird, noch in 
seiner Weisheit, Mäßigung und Götterfurcht 
lieben lernen, er soll durch dieses Maßhalten 
im Glück, die von den Griechen so hoch- 
gehaltene „Sofrosyne“, dem Zuschauer noch 
werter werden — aus den homerischen Ge- 
sängen hatte er solchen Kredit nicht mit- 
gebracht — , und zugleich erhält die zungen- 
fertige Klytemnestra Gelegenheit, ihre ganze 
Heuchelkunst zu entfalten. Vom edelsten 
Takte ist wieder sein leises Zurückweisen 
ihrer übertriebenen Rhetorik, das sich doch 



20g 



*4 



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zu vornehm hält, ein Mißtrauen zu verraten. 
Und nun folgt auf diese gewaltige Vorbe- 
reitung noch eine letzte und höchste Steige- 
rung in der Kassandraszene, der Krone des 
ganzen Stücks. Die Seherin scheut zurück 
vor der blutbefleckten Schwelle. Wie ein 
Jagdhund wittert sie altvergossenes Blut. Die 
Gestalten des Vergangenen erscheinen für 
sie, dem Zuschauer unsichtbar, auf der 
Schwelle und regen den Blick ins Künf- 
tige auf, in das Künftige, das soeben schon 
zur Wirklichkeit wird. Sie sieht durch 
die Mauern, durch die geschlossenen Türen 
hindurch das Bad, das Netz und die Axt, 
die auch für sie geschliffen ist. Und nach 
dem erschütterndsten Weheruf über die 
Opfer, zu denen gleich sie selbst gehören 
wird, faßt sie sich zusammen und schreitet, 
vom Chor der Greise vergeblich zurückge- 
halten, wissend und dem Unabwendbaren 
sich beugend, ihrem Geschick entgegen. 
Dieser höchste, bis in die Wolken ragende 
Gipfel ist von der tragischen Kunst niemals 
wieder erstiegen worden, und auch für den 
Dichter der Oresteia selbst gab es hier kein 

210 



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Verweilen. Im „Totenopfer“ sinkt die dichte- 
rische Kraft, um sich erst in den „Eume- 
niden“ und hier mehr durch die Macht der 
sittlichen Idee, als durch die der dramati- 
schen Mittel noch einmal auf die gleiche 
Höhe zu schwingen. 

Diese großen Werke stehen da als ein 
ewiger Pegel, wie hoch einmal der Wasser- 
stand der Kultur gewesen; die heutige kann 
keine Schiffe von solchem Tiefgang mehr 
tragen. 






211 



14* 



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KUNST UND 
KÜNSTLER 



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Kunst ist Glückseligkeit. Man hat von 
ihrer Gegenwart nichts direkt zu lernen. Sie 
versetzt in einen Zustand, wo alles Wollen 
aufhört, also auch das Sichbildenwollen. 
Durch ihren Anblick wird die Welt voll- 
kommen. Wem nicht im buchstäblichen 
Sinne der Verstand dabei stille steht, der 
hat mit dem Kunstwerk nichts zu schaffen. 

n 

NEUE KUNST. Das Wort ist schon 
deshalb ein Widersinn, weil Kunst das 
Älteste ist, was es geben kann. Sie stammt 
aus den Anfängen der Menschheit, aus ihrem 
Spieltrieb und Kindersinn. Wo sie den ver- 
leugnet, da hat sie schon aufgehört, Kunst 
zu sein. Es gibt neue Kunstwerke, es kann 
neue Stile geben, aber keine „neue Kunst“. 
Weder von alter Kunst redet mir noch von 
neuer, sondern nur von der großen, echten, 
ewig einen. Ihr Inhalt kann leise wechseln 
mit den Zeiten, ihre Mittel sind zeitlos und 
wechseln nie. 

2i5 



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BW 

Es wird jetzt in Deutschland ein Kultus 
mit den bildenden Künsten getrieben, der 
vielleicht einen nahen Aufschwung vorbe- 
reitet. Die Sprache ist auch hier das emp- 
findliche Barometer, das die kommende Kul- 
turveränderung anzeigt. Kein Wort hört man 
so oft wie „künstlerisch“, es deckt jetzt eine 
ganze Kategorie von Begriffen, die früher 
unter allen möglichen Namen von einander 
getrennt waren. Auch der Dichter läßt sich 
jetzt willig unter die Künstler einreihen, der 
doch sonst eine eigene, höhere Rangstufe 
beanspruchte. Einen Hellenen würde diese 
Gleichstellung empören, aber heute sind wir 
in einer anderen Lage. Vielleicht steht der 
bildenden Kunst jetzt eine besondere, schon 
ganz nahe Mission bevor: die übergewaltige 
materielle Welt, die eine geistesfeindliche 
Macht zu werden drohte, mit Seele und 
Rhythmus zu durchtränken und sie so für 
den Geist zu erobern — die Menschheit 
durchs Auge zum Idealismus zurück zu ver- 
führen. 

** 

216 



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KÜNSTLERISCHER EGOISMUS. Der 
geistig schaffende Mensch hat zwar dasRecht, 
sich die schwereren Verwicklungen des Le- 
hens vom Halse zu halten und seinen Blick 
von der Not, vom Leiden, vom Unrecht, kurz 
von all den störenden Realitäten abzuwen- 
den, denn die Verbindlichkeiten, die jeder 
im Leben hat, zahlt er durch seine Werke 
an die Gesamtheit ab und wäre somit nicht 
verpflichtet, sich auch noch persönlich und 
für den Einzelnen einzusetzen. 

Aber eigentlich kommt dieses Recht nur 
dem Gelehrten zu gute, dessen Stoff außer 
ihm liegt, beim Künstler ist es anders. Schon 
der Maler und der Bildhauer können keinen 
ausgiebigen Gebrauch davon machen ohne 
Schaden für ihr Werk, noch viel weniger 
der Dichter. Wenn dieser mit seiner Person 
sehr haushälterisch ist, so fördert er zwar 
die Quantität seiner Werke, aber die Qualität 
leidet darunter. Denn des Dichters Material 
ist ewig nur er selbst — darum haßte Byron 
solche Schriftsteller, die nichts als Schrift- 
steller waren. 

Die Affekte, denen der Schaffende im 
217 



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Leben allzu ängstlich aus dem Wege ge- 
gangen ist, versagen sich ihm für die Dar- 
stellung, da er den Stoff zu seinen seelischen 
Gebilden nur aus der eigenen Seele holen 
kann. Er wird also, wenn er ihn da nicht 
findet, zu — vielleicht unbewußten — An- 
leihen greifen müssen, die er nur bei irgend 
einer älteren, aus der unmittelbaren Emp- 
findung geschöpften Darstellung machen 
kann. Bei dieser Übertragung leidet natür- 
lich seine Darstellung eine Einbuße an Jnner- 
lichkeit und somit an echter Wirksamkeit, 
die auch durch die größte Meisterschaft in 
der Formensprache nicht ganz verdeckt wird. 

Solche Künstler nennt man kalt, sie sind 
vielleicht nur im Leben allzu vorsichtig ge- 
wesen. 






218 



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! 

® UNTER ei 
MENSCHEN || 



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Die Politik ist das Schicksal, sagte Na- 
poleon, das Fatum der Alten mißbilligend. 
Heute müßte man sagen: die Gesellschaft 
ist das Schicksal, diese ganze große Kultur- 
maschine, die den Starken, der sich wider- 
setzt, zermalmt und den Schwachen zerreibt. 

Der Konventionalismus wird niemals aus 
der Welt geschafft werden : er ist die einzige 
Form, unter der die große, unendliche Herde 
derer, die nicht denken, dem Ideal huldigen 
kann, wenn sie es dabei auch gänzlich fälscht 
und in sein Gegenteil verwandelt. 

Die menschlichen Vorurteile sind wie 
jene bissigen Hunde, die nur den Furcht- 
samen angreifen. 

Die materiellen Interessen reißen die 
Menschen auseinander, die geistigen verbin- 

221 



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den sie. Nur in Zeiten, wo der Idealismus 
herrscht, gibt es die großen Freundschaften. 

Die Gegenwart hat etwas Versöhnendes: 
Wenn wir einem Menschen, mit dem wir 
Krieg geführt haben, persönlich gegenüber- 
stehen und der Zwang der guten Sitte die 
Stirnen glättet, so regt sich auch wirklich 
etwas zu seinen Gunsten in unserer Seele. 
Alle Erklärungen seines Betragens legen sich 
ohne sein Zutun mildernd an unser Herz. 

Es sind unheimlich tiefgründige oder 
ganz perverse Naturen, die auch unter dem 
Einfluß der Gegenwart und mit einem ver- 
söhnten Lächeln auf den Lippen im stillen 
den Krieg weiterführen. 

r* 

Im Urzustände der Menschheit war jeder 
Unbekannte ein Feind, und eine Erinnerung 
daran ist noch im Instinkt erhalten. Bei jeder 
ersten Begegnung muß im Grunde etwas 
Feindseligfremdes überwunden werden, das 
der Kulturmensch durch eine verbindliche 
Formel zudeckt. Kinder schweigen und 

222 



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stehen sich scheu gegenüber, bis sie ent- 
weder Sympathie fassen und einander bei 
den Händen nehmen, oder die Abneigung 
so deutlich wird, daß sie vielleicht beide 
in ein Geheul ausbrechen. 

Klug sein heißt praktische Psychologie 
treiben. Wer einen anderen gar nicht zu be- 
handeln versteht, der beweist, daß er in 
sein Wesen und seine Bedürfnisse keinen 
Einblick hat. 

** 

Zur Menschenkenntnis gehört nichts als 
ehrliche Selbstbeobachtung. Kennt man sich 
selbst, so kennt man alle Menschen, die 
guten wie die schlechten. 

Die Fronsklaven des Luxus blicken mit 
Neid, der nicht immer frei ist von Gehässig- 
keit, auf jene Bedürfnislosen, die sich den 
höchsten Luxus gestatten, ihre Freiheit zu 
wahren. 

** 

223 



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Nicht umsonst setzt die Gesellschaft 
immer die höchste Luxussteuer auf die 
idealen Bedürfnisse. 

Der Philister, der nur das Reale schätzt, 
ist doch ganz außer stände, mit den wirk- 
lichen Realitäten zu rechnen. Sieht man ihn 
je einem Hochbegabten, Großeswollenden, 
der noch kämpfen muß, die Hand reichen? 
Auf den Dank solcher ringenden Heroen 
müßten ja die „praktischen“ Leute ganz 
eigens wie auf eine hohe Kapitalanlage spe- 
kulieren. Aber das fällt ihnen gar nicht ein. 
Dagegen ist man gleich zur Hand, wenn es 
gilt, sich irgend einem Hochgestellten dienst- 
bar zu machen, der den Vorschub weder 
braucht, noch dafür dankt. So schlecht ver- 
stehen sie sich sogar auf den weltlichen 
Vorteil. Die Wahrheit ist: dem Philister 
flößt nur der im Besitz Befindliche Zu- 
neigung ein, die er dann auch völlig gratis 
verschwendet, und so ist er, ohne es zu 
ahnen, doch auf seine Art ein ganz un- 
praktischer Phantast. 

224 



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Der wahrhaft Bedauernswerte in der heu- 
tigen Gesellschaft ist nicht der Proletarier, 
an dessen materielle Förderung eine mäch- 
tige Partei ihre ganzen Kräfte setzt. Freilich 
ein chimärisches Bestreben, so lange mit 
der Steigerung der Löhne neben der Er- 
höhung der Preise auch die materiellen Be- 
dürfnisse sich erhöhen. Dennoch gibt es 
einen Ausgleich für den gemeinen Mann: 
er lebt naiv in den Tag hinein, der Zwie- 
spalt zwischen den Forderungen der Natur 
und der Gesellschaft läßt ihn unberührt, er 
heiratet jung und fragt nicht: Wie werde 
ich meine Kinder durchbringen? Er weiß: 
die breite Woge des Lebens trägt auch sie. 

Der wahre Märtyrer unserer Kultur ist 
der gebildete Mensch, der keine Mittel hat. 
Er ist zum Zölibat verurteilt, weil er nicht, 
wie der Proletarier, leichtsinnig einen Le- 
bensfunken entzünden darf, den er nicht 
nähren kann. Seine Kinder sollen nicht unter 
sein eigenes Niveau herabsinken, besser also, 
daß sie gar nicht sind. Keine Partei fragt 
nach seinem Wohlergehen. Seine glück- 
licheren Standesgenossen lassen ihn mehr 

225 *5 



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oder minder deutlich seine finanzielle 
Ohnmacht fühlen, und der Niedrige rächt 
gerne an ihm all den Haß und Neid, 
den die privilegierte Klasse ihm ein- 
flößt. Wenn er ihn nicht für den Luxus 
seines Auftretens hassen kann, so haßt er 
ihn für den geistigen Ausdruck seiner Ge- 
sichtszüge, der ihm als der allergrößte Luxus 
erscheint. Ja, er haßt ihn im Grunde sogar 
mehr als den Reichen, weil der Besitz dem 
gemeinen Mann als Realisten, der er ist, 
doch zugleich imponiert. Und was Wunder, 
daß das rohe Volk roh empfindet, wenn 
der wohlhabende Gebildete selber jeden 
Geldsack mit Hochachtung behandelt und 
dem Parvenü Rücksichten erweist, die er 
vielleicht dem unbemittelteren Bruder schul- 
dig bleibt. Die ungeheure Überschätzung der 
materiellen Güter ist dem Volk, das die gei- 
stigen nicht kennt, am wenigsten zu ver- 
argen. 

Wahrlich, es gehört noch viel, viel mehr 
dazu, als Geist und Bildung, es braucht Cha- 
rakter, Gemüt und eine fortgesetzte Vered- 
lung der Rasse durch viele Generationen, 

226 



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um den Mammon endlich auf seinen wahren 
Wert zu fixieren. 

Wenn ihr weiter nichts wollt, als schön 
wohnen, behaglich leben, euren Sinnen an- 
genehme Empfindungen zuführen — das alles 
will die Bestie auch. Fragt den Stier, was er 
vom Leben verlangt: eine grüne Wiese mit 
vielem saftigem Gras und mit schönen Kühen 
darauf. Wenn ihr nichts Höheres wollt als 
er, so habt ihr kein Recht, ihn zu töten und 
euch durch ihn zu nähren. 

Aber ich sehe eine Zeit kommen, wo 
ein Hunger nach idealen Gütern die Welt 
verzehren wird. Dann wird sie sich in Hirn- 
gespinste und von da in die Askese stürzen, 
denn das Schöne ist eine Blume, die in 
Jahrtausenden nur einmal blüht. 

n 

ALLERLEI HEILIGE. 

DIE IDEALISTEN WIDER WILLEN. 
Die praktischen Köpfe, die sogenannten 
„positiven Menschen“, die den Idealismus 

227 i 5 * 



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verachten und nur für den Gelderwerb leben, 
das sind die Idealisten wider Willen. Sie 
rechnen und häufen Millionen auf Millionen, 
ohne zu wissen, für wen, für was? Auf Be- 
fragen sagen sie zwar: „Für unsere Kinder“, 
in Wahrheit sind ihnen aber die Kinder da- 
bei sehr unwichtig. Wenn sie klug sind, 
so wissen sie sogar, daß sie die Kinder schä- 
digen, denn daß schnell erworbener, großer 
Reichtum die Degeneration der Familie zur 
Folge hat, das steht ihnen täglich in un- 
zähligen Beispielen vor Augen. Aber da- 
nach fragen sie nicht, das Erwerben ist ihnen 
ein Naturtrieb. Sie rechnen, während sie 
eine Beethovensche Sonate anhören, sie 
rechnen im Theater und in den Armen ihrer 
Gattin oder Geliebten. Nie hat ein großer 
Gedanke ihr Herz weit gemacht, nie eine 
poetische Regung ihre Phantasie entzückt. 
Auch für das bunte Maskenfest des Lebens 
hat der „praktische Kopf“ keine Zeit, er 
schließt das Fenster, damit das Gejauchze 
ihn nicht im Rechnen stört, und schreibt 
Zahlen zu Zahlen: er muß seine Millionen 
ausschicken, um neue Millionen heranzu- 



228 



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reißen, bis der Tod ihm die Feder aus der 
Hand nimmt. Alsbald ist offene oder heim- 
liche Empörung auf der ganzen Linie. Die 
Millionen, ihres Herrn und Meisters ledig 
und selbstherrlich geworden, erheben sich 
gegen seine Erben und lassen nicht ab, an den 
Unglücklichen ihre Rache zu kühlen, bis der 
physische und moralische Ruin der Familie 
vollendet ist und sie dann in öffentliche 
Stiftungen zerfallen können, die einem politi- 
schen oder humanitären oder künstlerischen 
Zwecke dienen. Denn auch der Dämon Geld 
hat zuweilen ethische Hintergedanken, wenn 
man sie auch nicht gleich durchschauen 
kann. 

So hat der praktische Kopf, der lebens- 
lang mit kaltem Lächeln auf die Idealisten 
heruntersah, dennoch sein ganzes Dasein an 
ideale Zwecke gesetzt, und die idealen 
Zwecke können mit Seinesgleichen als mit 
einer völlig sicheren Größe rechnen. 

n 

DIE ÄSTHETISCHEN MENSCHEN. 
Feine geistige Kultur, die unmittelbar aus 

229 



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dem Gelde stammt, hat etwas von der Treib- 
hauspflanze an sich, die außerhalb ihrer 
Jahreszeit zum Blühen gebracht wird. Statt 
daß eine Familie von Geschlecht zu Ge- 
schlecht sich langsam zur Kultur entwickelt 
und verfeinert, bis in einer Generation oder 
einem Individuum die höchste Blüte erreicht 
ist, nehmen die Kinder reich gewordener 
Banausen die Blüte vorweg, indem sie Eigen- 
schaften in ihrem Geiste zeitigen, auf die 
normalerweise erst ihre Urenkel ein Recht 
hätten. Aber Schmelz und Duft sind nicht 
wie bei der natürlich entwickelten Blume, 
es ist etwas Unvollkommenes darin: ein- 
seitige Ausbildung des Geschmacks, ästheti- 
scher Sinn ohne Veredlung des Gemüts und 
Charakters zu voller Menschlichkeit. Die 
Pflanze, die zum Blühen noch gar nicht 
reif war, verkümmert danach; niemals setzt 
sich bei den Nachkommen der unterbrochene 
Entwicklungsprozeß fort, die Familie muß 
aussterben oder verkommen. 

W 

Diese Naturen wissen ihre Mängel unter 
der ästhetischen Verfeinerung so gut zu ver- 

230 



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stecken, daß es langer Erfahrung bedarf, um 
sie an ihrem Merkmal immer und überall 
wieder zu erkennen. Ihr Merkmal ist: sie 
wissen nichts vom Noblesse oblige. 

** 

Wie sie es fertig bringen, diese ästheti- 
schen Schwelger, die überall das Schöne 
suchen und genießen, in ihren eigenen Hand- 
lungen und Unterlassungen so gar nicht 
schön zu sein und doch mit sich in Ein- 
klang zu bleiben? 

Sie sehen das Leben als ein Bühnenstück 
an, das eigens für sie aufgeführt wird. Sie 
sitzen bequem in ihren Logen, verteilen Lob 
und Tadel mit Kunstsinn und Gerechtigkeit 
und klatschen, wenn der Held mit Anstand 
untergeht. Ihm beizuspringen, fällt ihnen nie- 
mals ein, sie kämen sich dabei so absurd 
vor, wie jenes Bäuerlein, das vom Zuschauer- 
raum auf die Bühne sprang, um die bedrängte 
Unschuld zu beschützen. Sie wissen nicht, 
daß in diesem Stück, wie in den Komödien 
der romantischen Schule, auch die Zuschauer 
mitspielen, und daß eben dies ihre Rolle 
ist, diese ästhetische Teilnahme bei völliger 

231 



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seelischer Indifferenz, eine Rolle, die die 
Regie ihnen zugeteilt hat, weil ihr Zeug zu 
keiner besseren ausreicht. 

Wer auf einer ererbten Geldtruhe sitzt, 
muß, wie die Mediceer, hohe Verpflichtun- 
gen mitgeerbt haben, um ein großer Mensch 
zu sein. Aber diese verzogenen Kinder 
wollen wie die olympischen Götter thronen; 
jeder bringt ihnen sein Bestes, sie nehmen 
es an wie leichte Weihrauch Wölkchen und 
gehen doch vorüber, ohne einen Segen zu 
hinterlassen. ^ 

In jungen Jahren sagte ich getrost : Ästhe- 
tik ist die beste Moral. Damals kannte ich 
die Menschen nicht, sondern lebte in Ideen. 
Jetzt sage ich umgekehrt: Moral ist ange- 
wandte Ästhetik. 

n 

DIE PSEUDOROMANTIKER. Es gibt 
phantastische Naturen, besonders im weib- 
lichen Geschlecht, denen alles Hergebrachte, 
Fadengerade zuwiderläuft und die dabei doch 
so wenig Originalität besitzen, daß sie nicht 

232 



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BS 






s® 



einmal auf eigene Hand zu träumen, ge- 
schweige ohne Vorbild zu leben vermögen. 
Es sind das besonders die eingefleischten 
Romanleserinnen, die immer von Zeit zu 
Zeit in den Bann einer Romanfigur kommen, 
auf deren Maß sie ihr eigenes Dasein zuzu- 
schneiden suchen. Sie gefallen sich nur im 
Kostüm und in der Pose ihres Vorbilds, 
wollen im gleichen Leide schwelgen, wie 
dieses; sie machen ihre ganze Existenz zum 
Plagiat und schrecken, wenn der Nach- 
ahmungstrieb es fordert, nicht einmal vor 
dem Martyrium zurück. Ich frage mich, ob 
nicht unter den Opfern der großen Bewegun- 
gen, die von der Geschichte gefeiert werden, 
manche Exemplare dieser Gattung gewesen 
sind. 

Da solche Naturen aus innerer Unpro- 
duktivität mit dem täglichen Leben nichts 
anzufangen wissen, verachten sie es als ihrer 
unwürdig und ziehen sich gerne allerlei 
Elend auf den Hals, das sie vor sich selbst 
mit Theaterflittern aufputzen ; überhaupt ver- 
wechseln sie sich selbst mit den produktiven 
Naturen, deren innerer Drang gleichfalls ein 



233 



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behagliches Dasein abweisen muß, aber aus 
anderen Gründen. 

Die kleinen Städte bringen diese wunder- 
lichen Heiligen hervor, oder die Städte, die 
so groß sind, daß man auch dort im Winkel 
lebt. 

** 

DIE GERECHTEN. Der Schwerfällige, 
der kleinlich Gewissenhafte, der das Leben 
wie einen Sack zur Mühle schleppt, ist nie 
in Gefahr, sich bei den Blumen des Weges 
zu vertändeln. Das Entsagen fällt ihm leicht, 
weil seine Phantasie und seine Sinne gar 
nicht genießen können und weil das Tret- 
rad der täglichen Pflicht ihm noch die ge- 
ringere Langeweile bereitet; deshalb wun- 
dert er sich allen Ernstes, daß nicht alle 
eine Tugend üben, die ihm selber so wenig 
Überwindung kostet. 

Dagegen hat er einen anderen Genuß, 
dem er bis zur Ausschweifung fröhnt. Er 
schlemmt und praßt in Prinzipien. Er bringt 
das Gesetz nicht aus dem Munde, und wenn 
es ihm gelungen ist, mit seiner Rechtfertig- 

234 



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keit den anderen eine schöne Stunde zu 
verderben, so hat er seinen Zenith erstiegen : 
er genießt dann das schönste Glück, er ge- 
nießt sich selbst. So treulich sorgt die Natur 
für alle ihre Geschöpfe. Sich selbst genießen, 
das ist in Wahrheit das höchste Glück des 
Weisen wie des Toren. 

DIE EMPFINDSAMEN. Zuweilen be- 
gegnet man Menschen, die feiner organisiert 
sind, deren Nerven weiter reichen und in 
zartere Fäden auslaufen, als beim normalen 
Menschentypus, die darum auch verletz- 
licher sind und sich mit einem weiteren Boll- 
werk von Rücksichten umgeben müssen. 
Dieselbe Feinheit und Verletzlichkeit setzen 
sie auch bei den anderen voraus und bringen 
deshalb in ihren Verkehr eine Zartheit, eine 
Höflichkeit und Vorsicht mit, die gleichsam 
nicht von dieser Welt sind. Sie gehen wie 
mit bittend vorgehaltenen Händen durchs 
Leben. Wenn wir solchen Menschen be- 
gegnen, so erscheinen sie uns wie Wesen 
von einer anderen Rasse, einer zärteren, 

235 



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schutzbedürftigeren, leichter verwundbaren, 
wir hüten unsere Worte und Geb erden, um 
ihnen nicht wehe zu tun, wir treten unwill- 
kürlich leiser auf und dämpfen unsere 
Stimme. Sie sind niemals bequem zum Um- 
gang, diese Empfindsamen, sie erwecken eine 
Art zärtlicher Scheu, den Trieb, sie zu schützen 
und zu hegen, man möchte ihnen so wenig 
ein rasches Wort sagen, als einen Bluter 
mutwillig mit der Nadel ritzen, man weiß 
ja, daß bei ihnen die kleinste Wunde ge- 
fährlich werden kann. 

Neben diesen liebenswürdig Gefühl- 
samen gibt es aber Empfindliche von einer 
schlimmeren Gattung. Es sind das die Leute, 
die zwar mit Wonne dem Nachbar auf 
die Hühneraugen treten, aber außer sich ge- 
raten, wenn ihnen das Gleiche geschieht. 
Sie reden gerne von ihrem Feingefühl, das 
allerdings ihre eigene Person mit einer Un- 
verletzlichkeit umgibt, das aber niemals auf 
die anderen angewendet wird. Ihre Emp- 
findlichkeit hat vielmehr etwas Aggressives, 
und ihre Schwäche ist wie in einer stachligen 
Schale versteckt. Sie leben nach dem 



236 



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Spruch : 

Was du nicht willst, daß man dir tu, 
Das füge stets den andern zu. 

Da sie gänzlich formlos sind, verlangen 
sie, daß man sie so gelten lasse, während 
sie selber die peinlichste Beobachtung der 
Form ihnen gegenüber fordern. Sie schrei- 
ben also den anderen, ohne sich das ein- 
zugestehen, eine geistige Überlegenheit und 
höhere Verantwortung zu und vermeiden es 
daher, ihr Ich ins Auge zu fassen, weil sie 
beim Vergleiche verlieren müßten. Sie sind 
eine um so größere Landplage, als von dieser 
Gattung immer nur einer völlig auswachsen 
kann, der dann ungehindert einen ganzen 
Kreis von Friedfertigen, Einsichtsvollen ter- 
rorisiert. 

** 

GESELLIGKEIT. Wer in der heutigen 
Gesellschaft glänzen will, muß alle Taschen 
voll Kleingeld haben. Die Geister, die an 
Platos Symposion oder an der mediceischen 
Tafelrunde beisammen saßen, wären schwer- 
lich brillan e Gesellschafter in einem mo- 

237 



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demen Protzensalon. Kardinal Bembo hätte 
da seine Rede über die Liebe nicht ge- 
halten, eine der schönsten Tischreden, die 
existieren. Aber man braucht noch gar nicht 
zu diesen glänzenden Geistern zu gehören, 
es genügt, daß man sich gewöhnt hat, mit 
dem Worte einen Gedanken zu verbinden, 
so ist man schon für unsere „gute Gesell- 
schaft“ unbrauchbar. 

** 

In der Gesellschaft wird mancher für 
einen großen Grundbesitzer angesehen, der 
nur zu den öffentlichen Anlagen Zutritt hat 
und nicht das kleinste Gärtchen sein eigen 
nennt. 

Sein rechtes Licht braucht jedes In- 
dividuum, besonders in der Jugend. Es gibt 
wenig so königliche Wesen, daß sie überall, 
wohin sie treten, am rechten Platze sind 
und ihr eigenes Licht verbreiten. Am meisten 
haben es junge Mädchen nötig, daß man 
ihnen zu der richtigen Aufstellung behilflich 
ist, und die Familie tut nur, was billig ist, 

238 



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wenn sie ihnen das gewährt. Es gibt aber 
Familien, wo man für so raffinierte Be- 
leuchtung sorgt, daß der Beschauer miß- 
trauisch wird und sich fragt, wie wohl das 
Bild außerhalb des Ateliers aussehen möchte. 

« 

Bei einer Diskussion hat der Hausherr 
immer einen geistigen Vorteil über die Ein- 
geladenen. Man befindet sich in seiner 
Welt, und da man seine Voraussetzungen 
mit Händen greift, muß man seine Konse- 
quenzen gelten lassen. Vor allem: er steht 
nicht allein da, die Familie teilt seine Mei- 
nungen und vervielfältigt sie, ja sie scheint 
sogar seine Theorien durch ihr bloßes Da- 
sein zu beweisen. Selbst die Möbel sagen 
ja, wenn er spricht. Der Gast ist ein ein- 
zelner und kann seine Atmosphäre nicht mit- 
bringen. Er muß der Welt, in die er ein- 
getreten ist, gerecht werden, und sobald er 
seine eigene zum Ausdruck bringen will, 
ist er in Gefahr, daß man ihn mißversteht. 

** 

Langeweile, das heißt langweilige Ge- 
sellschaft — denn eine andere Langeweile 

239 



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gibt es nicht — ist die giftigste von allen 
Krankheiten. Sie löst Leib und Seele auf, 
pulverisiert den Menschen und streut seine 
Asche in die Winde. Und die Höflichkeit 
verlangt, daß wir den Gastfreunden die Hand 
drücken, die uns in ihrem Hause dieser In- 
fektion preisgegeben haben! Freilich, wir 
werden ja nur auf ein paar Stunden gemordet. 
Aber kann nicht dieser Abend unser letzter 
sein? Und ist nicht jeder Abend in einem 
gewissen Sinne unser letzter, da wir doch 
niemals wieder als ganz dieselben zusammen 
kommen? So behandelt man das Unwieder- 
bringliche, das Leben! 

** 

Ein Abendessen unter Freunden arran- 
gieren, ist dasselbe, wie ein Musikstück kom- 
ponieren. Nur wenigen ist dieses Talent 
heute gegeben. Unsere Geselligkeit ist ein 
roher Naturalismus geworden. Eine Haus- 
frau würde sich schämen, zwei Schüsseln 
auftragen zu lassen, die nicht zu einander 
passen. Aber zwei Gäste zusammen setzen, 
die gar nichts gemeinsam haben, weder die 

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Interessen, noch den Geschmack, noch die 
Bildung, das findet sie ganz natürlich. Alles 
bleibt dem Zufall überlassen. Die Zahl, die 
Auswahl der Gäste, das steht meistens unter 
einem ganz anderen Gesichtspunkt, als dem 
künstlerischen, unter dem es doch einzig 
stehen müßte. Die ausgesuchten Lebens- 
künstler, die das verstehen, bereiten ihren 
Gästen Stunden, die durchs ganze Leben 
nachleuchten. Jeder fühlt da etwas aus sich 
heraustreten, einen leichten, geflügelten Ge- 
nius, von dessen Dasein er vielleicht soeben 
noch keine Ahnung gehabt hatte. Die auf 
diesem Gebiete Laien sind, genießen das 
Glück der Stunde wie eine Zauberei. Ein 
jeder gibt improvisierend sein Bestes von 
sich und weiß nicht, daß zuvor ein Regisseur 
die Rollen verteilt und fein gegen einander 
abgewogen hat. Aus einer solchen Gesellig- 
keit kann am Ende eine ganz seltene und 
köstliche Wunderblume aufsteigen: ein Mo- 
ment, wo das Wort zu schrill und schreiend 
erscheint, weil alle sich verstanden haben. 
Zusammen schweigen können, ist die höchste 
Blüte der Geselligkeit. 

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0 © AUS 0 0 

DER ZEIT. 



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MODERN! — Wenn ich meiner Zeit 
auch nur um ein einziges Jahr vorauslebe, 
so habe ich das Recht, was heute in Paris 
oder Berlin modern ist, schon abgetan und 
veraltet zu nennen. 

»» 

Die Mode liebt zwar das Unechte, aber 
sie wechselt damit. 

n 

Wenn einer sich die Mühe nähme, alle 
die verschollenen Werke einer Literatur- 
periode, die zu ihrer Zeit hoch geschätzt 
waren, nacheinander durchzulesen, müßte es 
ihm nicht den Eindruck machen, als träte 
er in eine Morgue, wo ihm Leiche an Leiche 
fahl und entstellt entgegenstarrte ? Und doch, 
einst hat man diese Toten nur wenig unter- 
schieden von den Unsterblichen, die ihre 
Zeitgenossen waren. Ebenso wird es der 
Nachwelt mit vielen der hochbewunderten 
Produkte unserer Tage ergehen. Aber 
welchen Anstoß erregt der Unglückliche, der 

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von Natur gezwungen ist, schon heute mit 
den Augen der Nachwelt zu sehen! 

LITERARISCHE COURTOISIE. Wenn 
man vom Auslande kommt, fällt einem in 
der deutschen Literatur und Kritik vielfach 
ein unchevaleresker Ton, ein Mangel an 
guter Sitte auf. Ein ritterlicher Duellant sa- 
lutiert den Gegner, wenn er auf die Mensur 
tritt. So halten es alle alten Kulturvölker. 
Wäre es nicht an der Zeit, daß unsere 
Landsleute bei den Nachbarn ein wenig 
Unterricht in der literarischen Courtoisie 
nähmen ? 

Waschet eure Herzen und Hände und 
werdet rein. Keiner betrete das Heiligtum 
der Kunst, der nicht ein Festkleid anhat. 
Haltet die Ellbogen an den Leib, macht kein 
Geschrei, wir sind nicht auf dem Markte. Den 
Neid laßt draußen. Der Ruhm, um den sie 
sich katzbalgen, ist die klingende Schellen- 
kappe eines Narren. Wer eine Gabe zu 
bringen hat, der trete vor, ohne Lärm, ohne 
Rippenstöße gegen den Nachbar. Die ihr 

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5ffl 



vor ihm da wäret, macht ihm freundlich Platz, 
ihr verliert nichts durch ihn, ihr könnt nur 
gewinnen. Denn im Hause der Kunst sind 
viele Wohnungen. 

RUHM. Noch nie ist der Ruhm so wohl- 
feil gewesen, wie in unserer Zeit. Bald wird 
unberühmt zu sein für eine Auszeichnung 
gelten. Wir kommen am Ende noch in eine 
ähnliche Lage, wie die Mondbewohner in 
jener Operette, wo alle Menschen mit Deko- 
rationen geboren werden und wo man den 
Verdienstvollen zum Lohn für jede Leistung 
einen Orden abreißt, bis sie völlig ohne Band 
und Stern zur allgemeinen Bewunderung da- 
stehen. 

DEKADENZ. Wie kann ein so kern- 
gesundes, noch formloses und halb barbari- 
sches Volk, wie die Deutschen, sich weiß 
(machen lassen, es sei auch in der Dekadenz, 
wie seine viel kulturreiferen Nachbarn! Das 
erinnert ja an den Backfisch, der Essig trinkt, 
um interessanter auszusehen, oder seine 

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SS 









roten Wangen unter einer weißen Schminke 
versteckt. 

** 

DER KONJUNKTIV. Wenn ich einen 
neuen Roman oder eine Zeitschrift zur Hand 
nehme, so kann ich kaum eine Seite lesen, 
ohne auf Sätze zu stoßen wie diese: „Ihm 
schien, daß er auf hohem Berge stand“ — 
„Da wars, als ob eine Stimme zu ihr sprach“, 
oder: „Er machte eine Bewegung, als ver- 
droß ihn ihr Vertrauen“. Ahnt der Ver- 
fasser je, was ein kultiviertes Ohr bei solchen 
Sätzen leidet? Es ist ja nicht nur das äst- 
hetische Gefühl, das sich empört — o nein, 
die Beleidigung geht tiefer. Man sieht der 
Muttersprache Wunden schlagen, die viel- 
leicht in kurzem unheilbar sein werden, und 
muß wehrlos zusehen. Wenn es noch aus 
Unwissenheit geschähe! Aber man fühlt in 
den meisten Fällen eine Absicht durch, man 
merkt, daß der Schriftsteller, der, wie mir 
auffiel, fast immer vom Norden stammt, sich 
gewissermaßen vor dem Konjunktiv geniert, 
gleichsam als ob er ihn zu reserviert, zu 

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SS 



aristokratisch fände, denn man geht ja gerne 
so recht gemütlich in Hemdärmeln. Oder 
erscheint ihm der vornehme alte Herr viel- 
leicht nicht laut, nicht „schneidig“ genug, 
hält er ihn wohl gar für einen armen 
Schulmeister, daß er meint, ihn mit dem 
Ellbogen vom Trottoir stoßen zu dürfen? 
So viele Opfer an grammatischen Formen, 
auf denen doch die Kraft und die schmeidige 
Sicherheit einer Sprache ruhen, hat uns die 
Demokratisierung der Literatur schon ge- 
kostet. Und nun soll gar der Konjunktiv 
fallen? Will man denn das Deutsche zur 
Negersprache machen? Der geistig ge- 
sunde Mensch unterscheidet doch zwi- 
schen Wirklichkeit und Vorstellung, zwi- 
schen dem tatsächlichen und dem eingebilde- 
ten Vorgang. Soll dieser Unterschied aus 
der Sprache verschwinden ? Fühlt man denn 
nicht, welche Verarmung und Verrohung es 
ist, wenn man immer mehr Begriffe durch 
dieselbe Form ausdrückt und immer mehr 
Nüancen verwischt? Und daß dabei am 
Ende auch der Geist seine Unterscheidungs- 
fähigkeit verliert und zusammen mit der 

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B5 






Sprache abstumpft? Warum dachten die 
Griechen so fein und scharf, als weil sie eine 
so fein und scharf unterscheidende Sprache 
hatten! Und warum hatten sie diese 
Sprache? Weil sie so fein und scharf unter- 
schieden. Ihre Denkkraft und ihre Sprache 
förderten sich wechselseitig, schon das ge- 
ringste sprachliche Versehen zog den öffent- 
lichen Hohn nach sich. Diese Sprache war 
ihr heiligstes Palladium; an welcher Küste 
ihre Auswanderer landeten, da konnten sie 
mit ihr ein neues Griechenland bauen, das 
dem Ansturm der Barbarei gewachsen war. 
Ja, bauen, denn die Sprache, dieser wunder- 
bare und doch so gesetzmäßige Bau mit den 
geheimnisvollen, unzugänglichen Substruk- 
tionen ist zugleich selber die große Bau- 
meisterin, die jedes menschliche Gemein- 
wesen gründet. 

Man klagt so viel über die Verrohung 
der Massen, und eine politische Partei 
schiebt die Verantwortung dafür der anderen 
zu. Was soll man aber zu denen sagen, 
die das Werkzeug des Denkens selber ab- 
stumpf en und so die Verrohung durch alle 

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SS 






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Schichten der Gesellschaft tragen? Wer eine 
notwendige, grammatische Form aus seiner 
Muttersprache zu entfernen strebt, der be- 
geht ein Attentat auf die Seele seiner Nation. 
Auch bei uns sollte sich die wahre Vater- 
landsliebe im Kult der deutschen Sprache 
zeigen. Mit wem sie rein und unverstümmelt 
durchs Leben geht, der hat nicht nötig, mit 
den Sohlen am Boden der Heimat zu kleben, 
er kann, wie jene Griechen, sich an jeder 
Küste niederlassen; wo er steht, da steht 
er auf deutschem Grund. 

Allen, die sich als Deutsche fühlen, 
möchte ich zurufen: Habet Acht! Die Bar- 
barei klopft an die Tore. Tretet zusammen 
und rettet den Konjunktiv. Noch steht er 
in vollem Lebenssaft. In den süddeutschen 
Gauen geht er bis heute leibhaft im Volks- 
munde um. Aber es muß bewußt für ihn 
eingetreten werden. Sonst wird der Geist 
der Nachäffung alles dessen, was vom 
Norden kommt, sehr bald die süddeutschen 
Schriftsteller ergreifen, und auch sie werden 
den Konjunktiv preisgeben, mit jenem un- 
bedachten Eifer, der sie schon so manches 



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S5 






Mal das Bessere preisgeben ließ. Und dann 
können wir künftig singen: 

Mir ist es, als ob ich die Hände 
Aufs Haupt dir legen — muß, 
Betend, daß Gott dich erleuchte, 

Du deutscher Genius ! 

CHINESISCHES. Die Chinesen, die die 
vollendeten Papiermenschen sind, verachten 
uns, daß unsere Schriftsteller noch am Laute 
hängen. Die ihrigen drücken eine Nüance 
des Gedankens durch eine Modifikation der 
Schriftzeichen aus. Daß wir von wohl- 
klingenden Worten oder gar Sätzen 
sprechen, erregt ihr Kopfschütteln. Wort 
und Satz werden bei ihnen nur durch das 
Auge schön. Ein Druck oder Schwung des 
Pinsels vermehrt Kraft oder Schwung des 
Gedankens, eine Schattierung der Linie 
gibt dem Worte Feinheit, Schalkheit, und 
was weiß ich! — es wird versöhnlich oder 
schroff, je nach den runden oder eckigen 
Formen, mit denen es gemalt ist, der Strich, 
der es umzieht, ist seine Straffheit und 



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Tg pWvV 



Sicherheit. Augenscheinlich ist bei den Chi- 
nesen das Sprachgefühl erstorben, — an 
seiner Stelle hat sich ein eigenes, feines Or- 
gan für die Schriftzeichen entwickelt; auf 
einer Art von Buchstabensymbolismus be- 
ruht ihre literarische Kunst. Durch eine 
Schwingung des Buchstabens versetzt der 
chinesische Dichter das Herz des Liebenden 
in Mitschwingung, und wenn ein neuer 
Schnörkel auf dem Papier gefunden ist, so 
läuft ein Schauer des Entzückens durch das 
Reich der Mitte. 

Sind wir vielleicht auf dem Wege zu 
einem ähnlichen Chinesenzopf? Mit was für 
sonderbaren Mitteln suchen viele unserer 
Lyriker heute zu wirken ! Nicht durch sprach- 
liche Gestaltung, noch durch die Magie des 
Rhythmus und der geheimnisvollen Cäsuren, 
die, wie Heine sagt, das leise Atemholen 
der Muse sind, sondern durch größtmög- 
lichen, unter keiner rhythmischen Bedingung 
stehenden Wechsel in der Absetzung der 
Zeilen, durch Weglassung der Interpunktion, 
was, indem es dem Leser Mühe macht, 
als Tiefsinn erscheint, durch Gedanken- 

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striche an Stelle der Gedanken und ähn- 
liche seltsame Versuche soll der Eindruck 
besonderer Kühnheiten, Zartheiten, Fein- 
heiten u. s. w. erreicht werden. Der größte 
Trumpf sind die Minuskeln am Anfang der 
Verszeilen, die zwar niemand was zu Leide 
tun, aber auch ganz gewiß keinen Hund! 
vom Ofen locken. Was sagt das alles 
nun dem Ohr — und durchs Ohr der Seele? 
Es ist ja nur auf dem Papier vorhanden; 
sollte man nicht meinen, daß es eine Poesie 
für Taubstumme sei! Wenn sie lieber gleich 
eine neue Bilderschrift einführten, damit 
wenigstens das Auge ein wirkliches Ver- 
gnügen hätte, statt daß nur ein unbestimmtes 
Verlangen nach, ich weiß nicht was, erregt 
wird. Und dieses geschnörkelte, papieme 
Chinesentum sollte uns den magischen 
Wohlklang der Poesie ersetzen können? 
Nein, keine Sorge, daß der Deutsche, wie 
der Chinese, in einer Dekadenzperiode er- 
starre. Er braucht nur als großes Kind, das 
er ist, jedes Jahr ein neues Spielzeug. 

** 

All diesen Moden gegenüber gibt es nur 
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ein Mittel: sie behandeln, als ob sie schon 
vorüber wären. Dann hat man sie mit ihrer 
eigenen Waffe geschlagen, denn übers Jahr 
gibt einem die Mode selber Recht. 

n 

Es ist immer eine gute Taktik gewesen, 
vom Feinde, der noch steht, mit lauter 
Stimme zu sagen, daß er schon geschlagen 
und in voller Flucht sei. 

„Wer flieht? so fragen alle, schon wankt 
es hier und dort“ 

t» 

DER PROPHET. Es lebte einmal ein 
großer und guter Mann, dem stieg die Not 
der Zeit rings wie Wasser an den Hals. 
Da glaubte er, daß Eisen die Not heile, 
er preßte sein Herz zusammen und rief, Ge- 
wissen und Mitleid seien Sklaventugenden, 
und das Recht des Stärkeren müsse wieder 
gelten auf Erden. Der Mann war ein Dichter 
und träumte von einem königlichen Men- 
schengeschlecht, das er den Siegesweg über 
die Trümmer morsch gewordener Ideale 
führen wollte. 



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m 



Werdet hart, o meine Brüder, rief er, 
aber von dem schrillen Mißklang dieses 
Wortes zerriß seine eigene, zart geschaffene 
Seele, und sein Haupt verfiel der Nacht, 
der er es geweiht hatte. Das war sein Löse- 
geld an das Gewissen. 

Es war aber nicht das Schlimmste, was 
ihm geschah. Denn es ging dem Pro- 
pheten, wie es den Propheten zu gehen 
pflegt: Als er seinen Triumph mit dem höch- 
sten Preis bezahlt hatte, da verkehrte sich 
das Rettungswerk in sein völliges Gegenteil. 
Seine Bücher fielen in die Hände des Pöbels 
im Geiste, und der Pöbel im Geist glaubte, 
mit dem Bruder, der hart sein solle, sei er 
gemeint. Und der Pöbel ward hart, er tat von 
sich das Gewissen und das Mitleid und alle 
Sklaventugenden, nur die Sklavenlaster, die 
behielt er bei. Da wurden unsere stillen 
Gärten niedergetrampelt und die Axt an 
tausendjährige, heilige Eichen gelegt. Die 
Nacht aber schützte mitleidig das Haupt des 
unglücklichen aristokratischen Träumers, daß 
er seine Gefolgschaft nicht mehr zu sehen 
brauchte. 



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ggggsgggis 



Macht des Erfolgs, was machst du aus 
der siegenden Idee. Die Religion der Liebe 
brachte Folterkammer und Scheiterhaufen, 
und an das blumenbesteckte Gastmahl des 
letzten Dionysosjüngers setzen sich mit auf- 
gekrempelten Ärmeln die Heloten, spuckend 
und zähnestochernd. 

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So wäre das ganze Werk dieses großen 
Lebens nutzlos? Keineswegs. Wer die ge- 
bundenen Geister vom Druck des geistigen 
Herkommens befreit, erweist ihnen eine 
Wohltat, die auf die Länge jeden Schaden 
aufwiegt. Nicht umsonst ist ihr Dank so 
groß. Er hat Bewegung in die stockenden 
Lüfte gebracht. Er hat gezeigt, wie man 
alles Gedachte wieder umdenken kann, und 
hat damit das Denken in Fluß gesetzt. Das 
ist der Wert seiner Lehre, wie jeder neuen 
Lehre. Und wenn sie sich selbst wider- 
spricht, nur um so besser. Man darf vom 
Denker keinen unumstößlichen Gedankenbau 
erwarten. Alles Philosophieren ist ein Ge« 
duldspiel, bei dem man mit denselben Wür« 

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fein die verschiedensten Bilder zusammen- 
setzen kann. Der Zweck der Arbeit ist das 
Werkzeug, womit sie verrichtet wird: daß 
es blank und biegsam erhalten werde, daß 
der Geist sich ja nicht fixiere, sondern zu 
immer neuem Umdenken des Gedachten 
fähig bleibe. Auch Paradoxen sind eine 
Wohltat für den reifen Geist; sie heben für 
einen Augenblick die Notwendigkeit, der wir 
uns beugen, auf. Sie sind erquickend, wie 
jene Träume, in denen man etwas völlig 
Neues, nie Gesehenes, sieht, das jeder Er- 
fahrung Hohn spricht, zum Beispiel eine 
Landschaft, wo ein breiter Strom auf Berges- 
gipfel fließt, oder ein Meer, das höher liegt, 
als die Küste und auf Treppen erstiegen 
werden muß. Ein Übel sind sie nur für die 
Unmündigen, die sie für ewige Lebensregeln 
halten. 

** 

Der böse Geist der Menschheit hat es 
gewollt, daß der Genius im Leben allein sei. 
Zwar leben immer gleichzeitig auch seine 
Verwandten auf Erden, aber sie sind weit 

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verstreut, und selbst wenn er ihnen begegnet, 
so fehlt häufig das Erkennungswort. Erst 
wenn der Geist des Körpers ledig geworden 
ist, eilt er auf Windesflügeln durch die Welt 
und reißt aus allen Enden die Geister der 
Lebenden an sich — die ihm gehören und 
die ihm nicht gehören. Aber nun ist er nicht 
mehr der liebevolle, der gütige Befreier, der 
er im Leben gewesen, er ist ein harter, 
freudeloser Überwinder geworden, der seine 
Gedanken der Menge aitfzwingt, ohne die 
Süßigkeit des Sieges zu kosten, und der die 
wohltätige Rückwirkung der anderen auf sich 
selbst nicht mehr erfahren kann. Mit diesem 
Dämon rechnet dann die Nachwelt ab, ohne 
mehr des Liebenden, Gütigen zu gedenken, 
von dem jener sich losgewunden hat. 

„Er war euch ein brennendes und ein 
scheinendes Licht, und ihr wolltet eine Weile 
fröhlich sein in seinem Lichte“. Aber nun 
wird es Zeit, daß der Größere komme. 

W 

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SS 






SS 



DER NEUE BACCALAUREUS. Gott 
grüße dich, unsterblicher Baccalaureus, da 
bist du wieder, und „verwegen wie nicht 
einer“! So vollkommen hat dich selbst dein 
Meister Goethe nicht gekannt. Welche 
Freude hätte er an dir, wenn er dich heute 
sehen könnte. Seine Zeit brachte dich ja 
noch gar nicht in so monumentaler Größe 
hervor. Erst mußten Nietzsche und Stimer 
geschrieben haben und mißverstanden sein, 
ehe man sich so „grenzenlos erdreusten“ 
konnte. 

Wie geht es zu, daß kein Land, außer 
dem deutschen, den Typus des Baccalaureus 
erzeugt? Ich glaube, weil der Deutsche von 
Natur zurückhaltend ist; fängt er einmal 
an, sich vorzudrängen, so verliert er alles 
Maß, er beherrscht nicht die Anmaßung, 
sondern die Anmaßung beherrscht ihn und 
führt ihn, wohin sie will. Ferner, weil wir 
keine Gesellschaft haben, die die Unbeque- 
men in ihre Grenzen verweist. 

Daß die Jugend sich gerne etwas laut 
macht, ist ihr Recht, das man ihr nicht miß- 
gönnen soll. Bei den lateinischen Stämmen 

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hält die Grazie, bei der angelsächsischen die 
Erziehung diese Vordringlichkeit in den 
Schranken des Anstands. Nur bei den Deut- 
schen artet sie so fürchterlich aus. Da will 
jeder den anderen an Originalität überbieten. 
Jeder will der „Eigene“, der „Einzige mit 
seinem Eigentum“ sein, und so entsteht das 
wunderliche Zerrbild, das in unserer neuen 
Literatur und in der Gesellschaft spukt — 
der wiedergeborene Baccalaureus. — Origi- 
nal, fahr hin in deiner Pracht! Nur statt 
„Original“ sagt man heute: Individuum. 

DIE BACCALAUREA. Das Schönste 
aber ist, daß der neue Baccalaureus, dank 
den Auswüchsen der Frauenbewegung, auch 
sein Weibchen gefunden hat, die Bacca- 
laurea, denn es ist nicht gut, daß der Mensch 
allein sei. Sie braucht durchaus nicht dok- 
toriert zu haben, im Gegenteil, die höhere 
Töchterschule bringt den Typus noch reiner 
hervor. Da ich im Ausland lebe, kannte ich 
die Existenz der Baccalaurea bisher fast 
nur aus Zeitschriften. Vor kurzem aber hat 

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sie sich mir schriftlich im eigensten Ent- 
zücken vorgestellt. 

Kühn war ihre Handschrift, unermeßlich 
ihr Selbstvertrauen. Was sie mir geschrieben 
hat, werde ich nicht verraten ; aber ich zweifle 
nicht, daß von ihrem Wink der Wandel 
der Gestirne abhängt, und ich sage ihr für 
ihren wohlwollenden Gruß auf diesem Wege 
meinen Dank. 

Gott grüße auch dich, Baccalaurea! Ich 
habe mich gefreut, deine Bekanntschaft zu 
machen. Denn ich sehe wirklich nicht ein, 
weshalb die Abgeschmacktheit für alle Zeit 
ein männliches Privilegium bleiben soll. 

DAS INDIVIDUUM. „Platz da, ich bin 
ein Individuum ! Meinesgleichen gab es noch 
nie“, ruft es heute aus allen Ecken und 
Enden, und in Gruppen zu einem Dutzend 
und mehr, einer dem andern zum Ver- 
wechseln ähnlich, treten die Individuen auf 
den Plan und garantieren sich gegenseitig 
die Echtheit ihrer Individualität. 

Sonst dachte man, die starken Persön- 
lichkeiten entständen durch die starken 

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» «aggrasB«' 






Gegensätze. Die Griechen, die die eigent- 
lichen Schöpfer der Persönlichkeit waren, 
schufen sich auf jedem Gebiete die streng- 
sten Formen, um ihre feurigsten Kräfte da 
hinein zu gießen. Sie schlossen alle Willkür 
aus und machten die Gesetzmäßigkeit, aus 
der ihr Schaffen sich entwickelte, zum Prüf- 
stein des Individuums, das stark sein mußte, 
um daneben dennoch seine volle Freiheit 
und sein eigenes Gepräge zu bewahren. Aus 
dem Zusammenwirken des organisch Not- 
wendigen mit der persönlichen Freiheit ent- 
sprangen ihre Individualitäten, die so ge- 
waltig waren, daß jede in sich die ganze 
Menschheit darstellt. 

„Nous avous changö tout cela.“ Unser 
modernes „Individuum“ steht unter ande- 
ren Lebensbedingungen. Wie wild es 
sich mitunter auch gebärde, es ist ein zartes 
Pflänzchen, das vor jeder rauhen Luft be- 
hütet werden muß. Es hat allen Vorschub, 
alle Schonung von außen nötig, denn jedes 
Hindernis behindert seine Individualität. Es 
muß sich, wenn es dichtet, den rhythmischen, 
wenn es denkt, den logischen, wenn es redet, 

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»«BaWteBM 






den grammatikalischen Gesetzen entziehen 
dürfen, weil sie alle seiner Individualität scha- 
den. Und die Allgemeinheit gesteht ihm diese 
Ausnahmsrechte zu, sie sieht ein, daß das In- 
dividuum sonst nicht gedeihen könnte, und 
eine moderne Nation, die etwas auf sich hält, 
bedarf des Individuums, um ihr Selbstgefühl 
daran stärken und der Welt verkünden zu 
können: Habemus Pontificem! Wir haben 
es, wir haben das Individuum! 

Sobald ein Mitglied einer Familie in sich 
den Hang zur Individualität entdeckt, wird 
es durch besondere Rücksichten vor allen 
anderen ausgezeichnet. Hat zum Beispiel die 
junge Frau eines Morgens erklärt: „Ich will 
ein Individuum sein, gebt mir Raum, daß 
ich ein Individuum werde“, so kämmt sie 
zunächst ihre Haare in breitem Bausch über 
die Ohren und streckt sich mit ge- 
ringelter Schleppe auf das Kanapee. Der Gatte 
trägt ihr die neuesten Romane zu als Futter, 
an dem ihre Individualität sich stärkt. Die 
Kinder haben keine Ansprüche mehr an sie 
zu erheben; die Mutter nimmt ihr diese und 
andere lästige Pflichten ab, die Brüder und 

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- 5 » 



5S 



Schwäger verkündigen es mit Triumph: 
„Unsere Schwester, beziehungsweise Schwä- 
gerin, wird ein Individuum“. Alle heben und 
hegen das Wachstum ihrer Individualität, wie 
ein Bienenstaat das der königlichen Puppe, 
denn es ist eine Ehre für die ganze Familie, 
ein Individuum in ihrer Mitte zu haben. 
Wenn sie endlich selber Eingebungen emp- 
fängt und beginnt, sie aufzuzeichnen, so 
stehen Mutter und Gatte abwechselnd vor 
ihrer Tür Wache, um jede Störung fern- 
zuhalten, damit ihre Offenbarungen der Welt 
nicht verloren gehen. 

Man glaube aber ja nicht, daß das In- 
dividuum nun ein leichtes Leben habe. Keine 
Frohn ist saurer als die seinige. Es darf in 
nichts mehr seiner Natur und Gewohnheit 
folgen. Es muß Schreibunterricht nehmen, 
wie ein Abcschütz, um seine alte Handschrift 
ab- und eine neue, „individuelle“ anzulegen. 
Es darf sich nicht mehr kleiden, darf nicht 
mehr stehen und gehen, wie bisher. Es muß 
das Grüne blau sehen, und zum Kamel muß 
es Zebra sagen. Es darf nicht einmal richtig 
deutsch sprechen oder schreiben, weil schon 

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darunter seine Individualität Not litte. Es 
muß sich das Hirn zerbrechen, um alle die 
fühllosen, widernatürlichen Wortbildungen 
auszuhecken, wodurch ein Individuum das 
andere zu übertrumpfen hat. 

Das arme Individuum! Wie es sich 
plagen, was es sich versagen muß! Der 
ärmste Teufel, der im Schweiße seines An- 
gesichts sein Brot ißt, darf doch am Abend 
ausruhen. Das Individuum niemals. Tag und 
Nacht muß es auf dem Platze sein und 
fort und fort rufen: „Seht mich an, mich, 
das Individuum!“ Denn wenn es aufhören 
würde zu rufen, oder wenn es sich von der 
Stelle, wo es Parade steht, entfernte, so 
wüßte ja gleich kein Mensch mehr, daß es 
ein Individuum ist. 

Hat nun das Individuum von seinem 
Rackerleben einen Vorteil? O ja, einen 
großen — ganz abgesehen von der Aner- 
kennung, die die Gesellschaft ihm für seine 
Bemühungen entgegenbringt Sobald nämlich 
das Individuum in irgend einer Kunst pro- 
duktiv wird — und das wird es unter allen 
Umständen — so kann es eines großen Er- 

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folges gewiß sein. Wenn es vielleicht auch 
kein Talent hat, so hat es doch ganz gewiß 
nunmehr eine „Eigenart“. O, die Eigenart, sie 
ist eine herrliche Sache, so schön wie das 
Wort, das sie sich eigens erfunden hat! Mit 
ihr kann man an jede Unternehmung heran- 
gehen. Man malt ein Bild, ohne zu wissen, 
was Farbe ist, man macht Verse, die keinen 
Sinn und keinen Rhythmus haben, man 
schreibt Bücher, ohne einen einzigen Ge- 
danken darin. Ist das Produkt fertig, so 
wird es mit der Marke „eigenartig“ ge- 
zeichnet, und nun tritt es unmittelbar neben 
die großen Meisterwerke. Sein Recht dazu 
läßt sich auf der Rechentafel nachweisen: 
Nämlich: 

Das Meisterwerk trägt den Stempel des 
Individuellen. 

Folglich war sein Schöpfer ein Individuum. 

Der des Produkts ist es gleichfalls. 

Individuum ist gleich Individuum. 

Die gleiche Ursache hat die gleiche 
Wirkung. 

Folglich ist das Produkt gleich dem 
Meisterwerk. 

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B5S 









Heil sei der Eigenart und ihrem Besitzer, 
dem Individuum! 

Aber Geduld! Noch um ein weniges, 
so geht es auch mit dem Individuum zur 
Neige. Schon ist der Übermensch vorange- 
gangen, er hat sich aufgeblasen, bis er platzte. 
Das Individuum wird ihm nachfolgen, es 
wird an Entkräftung sterben. Dann wird 
man lange Zeit das arme, zu Tode gehetzte 
Wort nicht mehr brauchen können, bis 
unsere Übergangszeit mit ihren Schrullen ver- 
gessen ist. 

DIE ERZIEHUNG DES WEIBES. 

(Aus den Papieren eines Schulmanns.) 

Ich bin ein Deutscher und somit konser- 
vativ. Wenn ich höre, daß etwas anders 
wird, als ich es seit Kindesbeinen ge- 
wohnt bin, so ist mir das an sich zuwider. 
Da ich aber als ein gebildeter Mann neben- 
bei einem gemäßigten Fortschritt huldige, 
so widme ich mich in den Stunden, die 
mein Beruf mir freiläßt, der Lösung von 
Kulturproblemen, und zur Zeit arbeite ich 



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an einem maßgebenden Werk über die so- 
genannten „Frauenrechte“. Ich habe soeben 
die Aufschrift meines zwölften Kapitels ge- 
schrieben: Die Erziehung des Wei- 
bes geschieht durch den Mann. Da 
wird mir die Zeitung auf den Tisch gelegt, 
in der sich wieder einmal eine Petition der 
Frauen an den preußischen Landtag befin- 
det. Die Damen sind nicht zufrieden, daß 
sie auf den Hochschulen geduldet werden, 
sie fordern auch das Recht der Immatriku- 
lation. Nun, dazu habe ich als Schulmann 
auch ein Wörtlein zu sagen. Ich werde mir 
gestatten, mich mit den Damen recht sach- 
lich, wie es meine Art ist, auseinanderzu- 
setzen. 

In Italien, wo ich einige Jahre als Haus- 
lehrer zubrachte — es ist übrigens ein 
schönes Land, von dem ich als guter Deut- 
scher den Wein und die Gesänge zu schätzen 
weiß — in Italien habe ich so recht gesehen, 
wie es geht, wenn man die Dinge nicht an 
ihrer prinzipiellen Wurzel faßt, sondern nur 
die angeborene Läßlichkeit walten läßt. Die 
Leute leben nämlich dort ganz ohne The- 

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orien, daß unsereinem die Haare zu Berge 
stehen. , Schreibt dort zum Beispiel eine Frau 
ein gutes Buch, so wundert sich niemand 
darüber, und die Kritik tut sogar, als ver- 
stände sichs von selbst, daß auch einer Frau 
so was passieren kann; sie macht gar keine 
andere Mundeinstellung, als wenn sie das 
Werk eines männlichen Autors bespricht. 
Da sind zum Glück wir Deutsche wissen- 
schaftlicher. Ich selbst, der ich lange Zeit 
Kritiker von Profession gewesen bin, hatte 
für diese Fälle ein eigenes Schema, nach 
dem ich zwanzig Jahre gearbeitet habe. Ich 
begann jedesmal mit einem Exkurs über die 
Stellung des Weibes in Natur und Gesell- 
schaft, worin ich zwar dem brutalen, jetzt 
überwundenen Standpunkt entgegenzutreten 
pflegte, daß das Gewicht der Himmasse über 
den Grad der Intelligenz entscheide, aber 
gleichwohl geistige Stärke, wenn sie sich 
am einzelnen Weibe manifestierte, in die 
Gattung des Monströsen verwies. Von all 
dem haben sie, wie gesagt, jenseits der Alpen 
keinen Dunst. Sie reihen solche Phänomene 
ohne weiteres unter ihre Erfahrungen ein 



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SS 

und bilden danach ihr Urteil, statt wie sichs 
gehört, mit dem Urteil den Anfang zu 
machen. 

Ebenso leichtsinnig sind sie mit der 
Frage des Frauenstudiums verfahren. So- 
bald ein paar überspannte Weiber die Zu- 
lassung zu Gymnasien und Universitäten ver- 
langten, und ein paar gedankenlose Männer 
ihnen Recht gaben, antwortete die Regierung 
gelassen: Probieren wirs, — und plötzlich, 
wie aus den Wolken gefallen, war die Sache 
da, und was noch schlimmer ist: sie hält 
sich. Na, sehe jeder, wie ers treibe! Wir 
sind ja für andere Völker nicht verantwort- 
lich. Im Lande der Denker geht man Gott 
sei Dank bedächtiger zu Werke, und ich 
hoffe, der preußische Landtag wird wissen, 
was er zu tun hat. Ich mein’ es ja nur gut 
mit den Damen. Du lieber Gott, wenn ich 
denke, was das Studium seinerzeit mir für 
Mühe gemacht hat und wie schwer mir mit- 
unter heute noch das Begreifen fällt, der ich 
doch ein Mann bin — wie soll das erst mit den 
Weibern werden! Darum ist mein Spruch: 

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Voll Dampf zurück! Daß auch sehr be- 
deutende Männer für die sogenannten Frauen- 
rechte eingetreten sind, geht mich nichts an, 
ich bin kein bedeutender Mann, sondern 
vertrete den Mittelstand der deutschen In- 
telligenz und bin stolz darauf. 

Mein Mietsherr Nielsen, der Korrespon- 
dent einer Stockholmer Frauenzeitung, der 
ein Stockwerk höher wohnt, als ich, schwört, 
es noch erleben zu wollen, daß die Frauen 
an der Gesetzgebung Teil bekommen. Natür- 
lich, der Mann hat eine Frau, die ihm seine 
Artikel schreiben hilft, und ist, wie sich von 
selbst versteht, unter dem Pantoffel. Da- 
für bekommt seine Gnädige von mir die 
Wahrheit zu hören. Meine liebe Frau liegt 
mir zwar mit Eifersucht in den Ohren, denn 
sie behauptet, es habe eine Zeit gegeben, 
wo die schwarzen Augen der Schwedin mich 
nicht ganz kalt gelassen hätten, doch das 
ist ein Irrtum. Jedenfalls ist sie mir jetzt 
durch unsere vielen Debatten zuwider ge- 
worden. Ich sage ihr: das Weib ist schwach, 
es ist beschränkt und unproduktiv — sie ant- 
wortet mit Beispielen und Namen aus der 

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Geschichte und Literatur, worauf ich mich 
natürlich nicht einlasse; es paßt mir nicht. 

Neulich las sie mir gar einen Abschnitt 
aus Garibaldis Memoiren vor, worin dieses 
große Kind behauptet, die Frau sei nicht 
nur hingebender, aufopferungsfähiger als der 
Mann, sondern auch entschlossener, tapferer. 
Nun, daß die deutsche Frau wenigstens nicht 
tapfer ist, das sehe ich an der meinigen, 
die an keiner Kuh Vorbeigehen kann, ohne 
zu zittern, und was die Hingebung betrifft, 
davon könnte ich ein Liedchen singen, ich 
bin nicht umsonst Ehemann. 

Aber was antwortet mir das dreiste 
Frauenzimmer auf diese Entgegnung? 

„Die deutsche Durchschnittsfrau“, sagt 
sie, „steht hinter der Durchschnittsfrau an- 
derer Länder zurück. Sie kann als Hausfrau 
und Weltdame sich nicht mit der Französin 
messen, an Bildung, Charakter und Weitblick 
nicht mit der Engländerin, die Russin ist 
ihr wenigstens im Naturell überlegen, die 
Amerikanerin an unbefangener Freiheit der 
Bewegung.“ 



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Heiliger Gott, das im Lande des Dichters, 
der ein Gretchen erschaffen hat! 

„Ja,“ sagt sie darauf, „das Gretchenideal 
ist es eben, was die deutsche Frau im Rück- 
stand gehalten und der ganzen Nation ge- 
schadet hat.“ 

Bitte, erklären Sie mir das. 

„Dem Deutschen ist es nur wohl, wo 
er sich keinen Zwang antun muß. Auch 
die Leidenschaft will bei ihm in Schlaf- 
rock und Pantoffeln gehen und sich vor 
der Geliebten nicht zu genieren brauchen, 
so ist ihm denn ein „arm unwissend Kind“ 
im Hause immer am bequemsten gewesen. 
Darum fehlt es ihm aber auch den anderen 
Völkern gegenüber an Form, denn alle 
Schuld rächt sich: wie die Mutter, so der 
Sohn.“ 

„Da ist es nur schade,“ sagte ich höh- 
nisch, „wenn hochstehende Frauen keine 
Söhne haben.“ 

Das saß! Denn ihre Kinderlosigkeit ist 
ein Pfeil, der immer still in ihrem Herzen 
schwärt, so behauptet wenigstens meine liebe 
Frau. Der plötzliche Stoß hat ihr so wehe 

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getan, daß sie sogar ihre gewohnte Schlag- 
fertigkeit verlor. Und das war ein Glück. 
Sie hätte mich sonst nur daran zu erinnern 
gebraucht, daß mein liebes Weib und ich 
ja auch keine Kinder haben. Ich ließ also 
schnell den Gegenstand fallen und ging auf 
etwas anderes über. 

Dieser Nielsen aber ist doch ein 
Schwachkopf, daß er seiner Frau keine 
anderen Ansichten beibringt. 

Zwölftes Kapitel: Die Erziehung 

des Weibes geschieht durch den 
Mann 

„Heinrich, was machst du da?“ 

„Ich nummeriere meine Manuskript- 
bogen, Kind.“ 

„Es paßt mir nicht, daß du die Blätter 
im ganzen Zimmer herumstreust.“ 

„Siehst du, ich gebrauche dazu nur einen 
einzigen Stuhl.“ 

„Wozu denn aber den Stuhl?“ 

„Daß die Blätter da trocknen, denn auf 
dem Schreibtisch ist nicht Platz genug.“ 

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„Nun meinetwegen. — Heinrich!“ 

„Was, Schatz?“ 

„Hast du von den frischgebügelten Ta- 
schentüchern eins weggenommen ?“ 

„Kann sein, ich weiß nicht.“ 

„So denke darüber nach, es fehlt eins 
vom Dutzend. — Du weißt, ich will Ordnung 
haben in meinen Sachen!“ 

„Warum bist du denn so schlecht auf- 
gelegt?“ 

„Die Motten sind in deine neuen 
Strümpfe gekommen. Jetzt kann ich wieder 
einen halben Tag sitzen und flicken ; ist das 
ein Leben!“ 

So also — die Erziehung des Wei- 
bes geschieht 

Entschieden soll es heute mit dem Ar- 
beiten nichts werden. Denn jetzt fängt sie 
schon wieder an: 

„Heinrich, mach doch das Fenster auf.“ 
„Warum denn?“ 

„Weil du geraucht hast und ich das am 
Morgen nicht leiden kann.“ 

„Liebchen ! Ich bin doch in meinem 

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eigenen Zimmer, da hab’ ich noch immer 
rauchen dürfen.“ 

„Aber ich muß jetzt deinen Wäsche- 
schrank ordnen.“ (Sehr scharf) : „Bin ich 
dir vielleicht lästig?“ 

Meine liebe Frau hat heute ihre Nerven, 
da muß man Rücksicht nehmen. Ich öffne 
also das Fenster. Gleichzeitig macht sie die 
Tür auf, um dem Mädchen zu rufen, ein 
Windwirbel fährt ins Zimmer und verstreut 
meine Blätter auf den Boden. Ich laufe hinter 
den Blättern her, aber einige sind zum Fenster 
hinausgeflogen, ich muß ihnen auf die Straße 
nach, und als sie endlich geordnet sind, zeigt 
sichs, daß eines fehlt. Ich suche durchs ganze 
Haus, im Garten, umsonst, das Blatt ist fort 
und nicht zu ersetzen. Im Manuskript bleibt 
darum eine Lücke. Ich weiß nicht mehr, 
was ich über die Erziehung des Weibes 
durch den Mann habe sagen wollen. 

Und das alles wegen der Nerven meiner 
Frau. Ein solches Geschlecht will sich imma- 
trikulieren lassen! Du guter Gott! 

Wenn sie nur wenigstens bei Nielsens 
nichts von dem Intermezzo gemerkt haben! 

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Droben kommt so etwas freilich nicht vor. 
Das ist auch kein Wunder. Eine Frau, die 
selber schreibt, hat natürlich vor dem Ge- 
schriebenen Respekt. Nun, dafür ist mein 
Weib ein echtes Weib, ein deutsches Weib, 
eine Musterhausfrau und ordnet sich mir 
unter. Denn „er soll dein Herr sein“, und 
damit basta ! 



VOM TANZEN. 

(Ballsaal. Älterer Herr mit kahlem Kopf 
und goldenem Kneifer einer Dame, die so- 
eben in ein Fauteuil gesunken ist, eine Er- 
frischung bringend): 

Gestatten Sie, daß ich Ihnen diese Eis- 
limonade anbiete, gnädige Frau, Sie scheinen 
erhitzt zu seih. 

Dame: 

O — Sie sind sehr gütig — ich danke 
Ihnen. 

Herr: 

Bitte, das ist die Pflicht des Alters, wenn 
sich die Jugend für uns bemüht hat. 

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Dame: 

(lächelnd, indem sie das Glas zurückgibt): 

Für Sie bemüht hat? Sie glauben wohl, 
es werde zu Ihrer Unterhaltung hier ge- 
tanzt? 

Herr: 

Zu meiner Unterhaltung nicht, aber zu 
meiner Belehrung. 

Dame: 

Bitte, wie verstehen Sie das? 

Herr: 

Ich sehe hier nach dem Barometerstand 
unseres Kulturlebens, um mich zu orien- 
tieren, was für Strömungen definitiv abgetan 
sind und in welcher Richtung der Geist 
während der nächsten zehn Jahre wehen 
wird. 

Dame: 

Diese Orientierung finden Sie im Ball- 
saal? 

Herr: 

Nirgends besser, gnädige Frau. Es gibt 
immer Augenblicke in der Weltgeschichte, 
wo die kommenden Ereignisse vorausgetanzt 
werden. In Paris tanzte man seinerzeit Auf- 

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klärung und Menschenrechte, lange bevor 
die Republik erklärt und die Göttin der Ver- 
nunft auf den Thron gesetzt wurde. — Oder 
glauben Sie, nur die Tänze der wilden Völker 
mit ihrem Suchen und Fliehen hätten eine 
Symbolik? Die Tänze der zivilisierten Welt 
sind ebenso sprechend und haben dazu das 
allerabwechslungsreichste Thema. Jene tan- 
zen immer dasselbe Stück Naturgeschichte, 
wir aber tanzen jeweils ein neues Stück Zeit- 
geschichte. Wenn das auch vielleicht nicht 
ganz so schön ist, — Sie verzeihen, daß 
ich so aufrichtig bin, das zu sagen — es 
ist doch ebenso interessant. Nur im Ball- 
saal kann man sich auf einen Blick über 
politische, soziale, philosophische, ästheti- 
sche Strömungen unterrichten. 

Dame: 

Das ist mir völlig neu. Darf man viel- 
leicht einiges von Ihren Beobachtungen er- 
fahren ? 

Herr: 

Wie hoch würden Sie mein Alter 
schätzen, gnädige Frau? 

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SS 



Dame: 

Nun, ich würde Ihnen wohl einiges über 
Vierzig, aber noch lange keine Fünfzig 
geben. 

Herr: 

Nehmen wir an, Sie hätten Recht. — 
So will ich Ihnen vom Tanz des letzten 
Vierteljahrhunderts erzählen. O, ich weiß 
noch gut, wie der Übergang sich vorbereitete. 
Lebhaft erinnere ich mich an gewisse reifere 
Damen, die dazumal in den Kontretänzen 
das junge Volk zu heimlichem Lachen 
reizten durch die kunstvollen Pas, die noch 
aus der Zeit ihrer Jugend stammten. Das 
war so gefühlsam, so schäfermäßig, man 
dachte an die Werth erzeit, an vergilbte 
Albumblätter und sentimentalische Poesie. 
Die Jugend — ich selber habe nie getanzt — 
schritt ihre Touren gehend, in rhythmischer 
Bewegung ab, und diese hüpfenden Re- 
spektspersonen wirkten unwiderstehlich er- 
heiternd auf meine grünen Altersgenossen. 
Mich machten sie melancholisch, als sähe 
ich einen Totentanz. 



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Dame: 

Das kann ich wohl verstehen. 

Herr: 

Als ich zehn Jahre später die zivilisierte 
Welt im Ballsaal wiedersah, da erstaunte ich, 
sie ganz verwandelt zu finden. Ich kam mir 
vor wie Rip van Winkle, der sich die Augen 
reibt. Man gab sich nicht einmal mehr die 
Hand wie sonst, sondern hob zuvor den 
Ellbogen spitz in die Luft und fuhr mit 
der Hand von oben herunter, indem man 
die dargereichte Rechte wie eine Schraube 
nach innen drehte. Dem Uneingeweihten — 
das war ich damals — erschien die Gebärde 
als das Übermaß linkischer Roheit, aber man 
teilte mir mit, sie sei das Freimaurerzeichen, 
woran die eleganten Leute aller Nationen 
sich einander kenntlich machten. 

Dame: 

Ist es möglich? 

Herr: 

O, gnädige Frau, es ist vieles möglich. 
— Und gar das Tanzen selbst! Vorüber die 
Zeit, wo man seine Glieder dem Rhythmus 
hingab! Vorüber jede Erinnerung an Stil 



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und Form. Jetzt mußte man, um chic zu 
sein, immer ein paar Takte zu spät kommen, 
wie ein zerstreuter Schauspieler, der sein 
Stichwort überhört hat. Dann rannte man 
eilig in die Reihe, wobei man möglichste 
Unordnung zu stiften suchte. Wer so kühn 
war, durch sein Dreinfahren die Figuren 
des Tanzes ganz zu zerstören, der fühlte 
sich auf der Höhe der modernen Zivilisation. 
Statt der tiefen Verbeugungen ein burschi- 
koses, halb widerwilliges Kopfnicken, wo- 
durch angedeutet wurde, daß man diese, wie 
überhaupt jede Form verachtete. Die Ell- 
bogen drückten, sogar beim schönen Ge- 
schlecht, durch ihre Stellung aus, daß man 
im Kampf ums Dasein auch Püffe auszu- 
teilen verstand, der Tritt mußte schwer sein 
und von ferne das Schreiten der Arbeiter- 
bataillone ahnen lassen. 

Dame: 

(sich die Hände vor die Ohren haltend): 
Schrecklich ! 

Herr: 

Ja, es war ein lehrreicher Abend. Ich 
war mitten in die Revolution der Materie 

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gegen Geist und Form geraten. An jene 
Zeit erinnern Sie sich natürlich nicht, Sie 
sind zu jung dazu. 

Dame: 

Ich war wohl noch nicht ballfähig; es 
muß schon eine Weile her sein. 

Herr: 

Für mich ist es gestern gewesen. Es war 
das letzte Mal, daß ich einen Ballsaal besuchte 
vor dem heutigen Tag. Da las ich auf Einen 
Blick die Signatur der Zeit. *Sie hieß Kraft 
und Stoff, Survival of the fittest, 
Struggle for life. Der Abend überhob 
mich der Lektüre von Marx und Darwin, 
von Zola und Ibsen. Ich ließ mir die „Ent- 
stehung der Arten“ — auch die der Unarten 
nebenbei — das„Assommoir“,die„Gespenster“ 
einfach vortanzen. Ein unvergeßlicher Abend. 
Durch die Musik ging es zuweilen wie Dyna- 
mitexplosionen ; das war der Anarchismus, der 
an die Türen klopfte. Freilich, die jungen Leute, 
die so unbefangen in voller Naturflegelei 
einherschlenkerten oder rasten, hatten keine 
Ahnung, was sie taten. Sonst hätten sie 
lieber das Tanzen ganz aufgegeben, ^denn 

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man kam damals nicht gern in den Ver- 
dacht, Phantasie zu haben. Sie glaubten nur 
den Stoffwechsel zu beschleunigen. Daß man 
lauter Allegorien tanzte, das wußte man da- 
mals so wenig wie heute. 

Dame: 

Nun, und was für Allegorien haben wir 
Ihnen heute vorgetanzt? 

Herr: 

Sie tanzen heute eine neue Wende der 
Zeiten. Götter- und Götzendämmerung. De- 
kadenz, das heißt Untergang einer alten 
Weltanschauung und den Aufgang einer 
neuen. Genau läßt sie sich noch nicht er- 
kennen. Es sieht alles noch so verworren 
aus. Aber Materialismus, Naturalismus haben 
Sie zu Grabe getanzt, das ist gewiß. — Sehen 
Sie hier das Paar, das sich soeben mit einem 
Händedruck trennt. Des Jünglings Ellbogen 
weisen noch immer nach außen, aber es 
ist nicht mehr das banausische von ehedem. 
Es sieht jetzt etwa aus, wie auf dem be- 
rühmten Reiterstandbild des Colleone zu Ve- 
nedig. Das bedeutet Nietzschetum, Herren- 
moral, blonde Bestie, modernes Renaissance- 

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ideal, freilich fast schon ein wenig passö. 
Nun betrachten Sie auch die Dame, sie ist 
besonders instruktiv, denn sie ist schon etwas 
weiter vorgeschritten. Im Reformkleid, dünn, 
fast körperlos, lang und schwank, müde und 
schmachtend, mit schlangenhaften Wendun- 
gen. An Schmuck und Kleidung alles phan- 
tastisch und schnörkelhaft, ohne Anfang und 
Ende, wie ein Gedicht von Gabriele d’Annun- 
zio. Das ist die Rache der Form an der 
Materie. O, und sehen Sie, hier kommt noch 
eine, die die erste überbietet. Die geringelte 
Schleppe, die langen Bänder, der gestreckte 
Hals, die dünnen Arme, alles endlos, auf 
mystische Fernen deutend. Form ohne Kör- 
per — und ohne Geist. Nein, auch keine 
Form mehr, nur noch eine Linie, die ins 
Unendliche weist. Es ist klar, wir stehen 
vor einer Periode des Übersinnlichen, wir 
sind vielleicht schon drinnen. Aber da 
kommt auch bereits die Reaktion. Heute ist 
eben alles kurzlebig, auch die Kulturperioden. 
Sehen Sie den jungen Mann mit dem lachen- 
den Gesicht und den behenden Gliedern, 
der seine Schöne im Sturmschritt daherträgt ? 

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Das ist der wahre „Europäer von über- 
morgen“. Der tanzt Kraft und Schön- 
heit, Natur und Kunst, „Loves Co- 
rning of ag e“, der tanzt die Kultur der 
Zukunft. Er wischt sich die Stirn, der Gute. 
Ich glaube es gern, es mag saure Mühe 
sein, so ein Kapitel Kulturgeschichte vor- 
auszutanzen. 

Dame: 

O, Sie sind spaßhaft. 

Herr (sich verabschiedend) : 
Gnädige Frau — es war ein genußreicher 
Abend, ich danke Ihnen. In zehn bis zwanzig 
Jahren hoffe ich wieder das Vergnügen zu 
haben. Bis dahin empfehle ich mich. 

Andere Dame: 

Was war das für ein Herr, der eben 
von Ihnen wegging? 

Erste Dame: 

O, ein Sonderling, der den Geist- 
reichen spielte. Er sah etwas semitisch aus. 
Übrigens hat er mir seine Karte gegeben. 
Sehen wir, wie er sich schreibt: — — Dr. 
Ahasverus, Berichterstatter „Unseres Jahr- 
tausends“. 






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495 Maschinensatz und Druck der Deutschen Buch- und 
Kunstdruckerei, G. m. b. H., Zossen — Berlin SW. ix. 



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